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Full text of "Die okkulten Grundlagen der Bhagavad Gita"

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RUDOLF STEINER GES AMTAUSG ABE 

VORTRAGE 

VORTRAGE VOR MITGLIEDERN 
DER ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT 



RUDOLF STEINER 



Die okkulten Grundlagen 
der Bhagavad Gita 



Ein Zyklus von neun Vortragen 
gehalten in Helsingfors 
vom 28. Mai bis 5. Juni 1913 



1992 



RUDOLF STEINER VERLAG 
DORNACH/SCHWEIZ 



Nach einer vom Vortragenden nicht durchgesehenen Nachschrift 
herausgegeben von der Rudolf Steiner-Nachlafiverwaltung 

Die Herausgabe besorgte Helmut von Wartburg 



1. Auflage (Zyklus 28) Berlin 1914 
2. Auflage (erste Buchausgabe) Dornach 1940 

3. Auflage Gesamtausgabe Dornach 1962 

4. Auflage Gesamtausgabe Dornach 1992 



Bibliographie-Nr. 146 
Jupitersiegel auf dem Einband von Rudolf Steiner 

Alle Rechte bei der Rudolf Steiner-NachlaEverwaltung, Dornach/Schweiz 
© 1962 by Rudolf Steiner-NachlalSverwaltung, Dornach/Schweiz 
Satz: Utesch Satztechnik GmbH, Hamburg / Bindearbeit: Spinner GmbH, Ottersweier 
Printed in Germany by Konkordia Druck, Buhl/Baden 

ISBN 3-7274- 1460-X 



7.u den Verbffentlichungen 
aus dem Vortragswerk von Rudolf Steiner 



Die Gnindlage der anthroposophisch orientierten Geisteswissen- 
schaft bilden die von Rudolf Steiner (1861-1925) geschriebenen und 
veroffentlichten Werke. Daneben hielt er in den Jahren 1900 bis 
1924 zahlreiche Vortrage und Kurse, sowohl offentlich als auch fur 
die Mitglieder der Theosophischen, spater Anthroposophischen 
Gesellschaft. Er selbst wollte ursprunglich, daft seine durchwegs 
frei gehaltenen Vortrage nicht schriftlich festgehalten wiirden, da 
sie als «mundliche, nicht zum Druck bestimmte Mitteilungen» 
gedacht waren. Nachdem aber zunehmend unvollstandige und feh- 
lerhafte Horernachschriften angefertigt und verbreitet wurden, sah 
er sich veranlaftt, das Nachschreiben zu regeln. Mit dieser Aufgabe 
betraute er Marie Steiner-von Sivers. Ihr oblag die Bestimmung der 
Stenographierenden, die Verwaltung der Nachschriften und die fur 
die Herausgabe notwendige Durchsicht der Texte. Da Rudolf Stei- 
ner aus Zeitmangel nur in ganz wenigen Fallen die Nachschriften 
selbst korrigieren konnte, mufi gegeniiber alien Vortragsveroffent- 
lichungen sein Vorbehalt beriicksichtigt werden: «Es wird eben nur 
hingenommen werden mussen, daft in den von mir nicht nachgese- 
henen Vorlagen sich Fehlerhaftes findet.» 

Uber das Verhaltnis der Mitgliedervortrage, welche zunachst nur 
als interne Manuskriptdrucke zuganglich waren, zu seinen offentli- 
chen Schriften auftert sich Rudolf Steiner in seiner Selbstbiographie 
«Mein Lebensgang» (35. Kapitel). Der entsprechende Wortlaut ist 
am Schluft dieses Bandes wiedergegeben. Das dort Gesagte gilt 
gleichermaften auch fur die Kurse zu einzelnen Fachgebieten, 
welche sich an einen begrenzten, mit den Grundlagen der Geistes- 
wissenschaft vertrauten Teilnehmerkreis richteten. 

Nach dem Tode von Marie Steiner (1867-1948) wurde gemaft 
ihren Richtlinien mit der Herausgabe einer Rudolf Steiner Gesamt- 
ausgabe begonnen. Der vorliegende Band bildet einen Bestandteil 
dieser Gesamtausgabe. Soweit erforderlich, finden sich nahere 
Angaben zu den Textunterlagen am Beginn der Hinweise. 



INHALT 



(Ausfuhrliche Inhaltsangaben Seite 167ff.) 



Erster Vortrag, Helsingfors, 28. Mai 1913 9 

Die welthistorische Bedeutung der Bhagavad Gita. Die Bewufitseins- 
situation des Arjuna. Krishna als Fiihrer zura Erleben des Einzel-Ich 

Zweiter Vortrag, 29. Mai 1913 25 

Die Stufen des Yogaweges und ihre Darstellung in den ersten Gesangen 
der Bhagavad Gita 

Dritter Vortrag, 30. Mai 1913 43 

Die Lauterung des Traumlebens durch Anderung der Sympathiekrafte. 
Hereinragen hoherer Erlebnisse in die Region des Traumbewufitseins 

Vierter Vortrag, 31. Mai 1913 59 

Ubersinnliche Erlebnisse in der Region des Traumbewulkseins und in 
der des Schlafbewufitseins. Auffindung des Krishna- Wesens in dieser 
Region 

Funfter Vortrag, 1 . Juni 1913 78 

Das zyklische Lebensgesetz. Das Wirken geistiger Machte im mensch- 
lichen Organismus zur Vorbereitung spater auftretender Seelenkrafte. 
Krishna als Vorbereiter des menschlichen Selbstbewufitseins 

Sechster Vortrag, 2. Juni 1913 93 

Die kunstlerische Komposition der Bhagavad Gita. Steigerung des Erie- 
bens bis zum imaginativen Erfassen der Krishna- Wesenheit. Bedeutung 
des Krishna-Impulses fur die einzelne Menschenseele, des Christus- 
Impulses fiir die ganze Menschheit 



SlEBENTER VORTRAG, 3. Juni 1913 108 

Das Wesen der menschenschopferischen Krafte. Bewahrung dieser 
Krafte vor dem Luzifer-Einflufi in der Schwesterseele des Adam. Ihre 
Offenbarung durch Krishna. Ihre Verkorperung im Jesusknaben des 
Lukas-Evangeliums 

Achter Vortrag, 4. Juni 1913 124 

Die Beziehung zwischen dem Gedankeninhalt der Bhagavad Gita und 
der Philosophic von Fichte, Hegel und Solovieff. Die Bedeutung der 
Begriffe Sattva, Rajas und Tamas 

Neunter Vortrag, 5. Juni 1913 141 

Der Impuls zur Verselbstandigung und Vervollkommnung der Men- 
schenseele durch Krishna. Die Synthese des luziferischen und des 
Krishna-Impulses durch den Christus- Impuls 

Einladung zum Vortragszyklus 160 

Hinweise 

Zu dieser Ausgabe 161 

Hinweise zum Text 162 

Namenregister 166 

Ausfiihrliche Inhaltsangaben 167 

Rudolf Steiner uber die Vortragsnachschriften 171 

Ubersicht iiber die Rudolf Steiner Gesamtausgabe 1 73 



ERSTER VORTRAG 



Helsingfors, 28. Mai 1913 

Es ist etwas mehr als ein Jahr, dafi ich hier an diesem One sprechen 
durfte iiber diejenigen Dinge, welche uns alien so tief im Herzen lie- 
gen, iiber diejenigen Dinge, von denen wir der Meinung sind, daft 
sie sich der menschlichen Erkenntnis in der Gegenwart einfugen 
miissen, weil von unserer Zeit an die menschlichen Seelen immer 
mehr und mehr fuhlen werden, dafi das Wissen urn diese Dinge 
wirklich zu den Bedurfnissen, zu den tiefsten Sehnsuchten der Men- 
schenseele gehort. Und mit einer tiefen Befriedigung begriifie ich Sie 
zum zweiten Male an diesem Orte, zugleich mit alien denjenigen, 
welche hier heraufgekommen sind, urn in Ihrer Mitte zu zeigen, wie 
ihr Herz und ihre Seele mit unserer heiligen Sache iiber den ganzen 
Erdkreis hin verbunden sind. 

Als ich das letzte Mai hier zu Ihnen sprechen durfte, da erhoben 
wir unseren geistigen Blick zu weiten Wanderungen in die Regionen 
des Weltenalls. Diesmal wird es unsere Aufgabe sein, mehr in den 
Regionen der irdischen Entwickelung uns aufzuhalten. Aber wir 
werden in solche Regionen uns zu vertiefen haben, welche uns nicht 
minder hinfuhren werden zu den Pforten der ewigen Offenbarung 
des Geistigen in der Welt. Wir werden iiber einen Gegenstand zu 
sprechen haben, der uns in der Zeit und in dem Raum scheinbar weit 
von dem Jetzt und von dem Hier hinwegfuhren wird, der uns aber 
darum nicht minder zu demjenigen fuhren wird, das im Jetzt und 
im Hier ebenso lebt wie in alien Zeiten und in alien Raumen, 
der uns fuhren wird in intimer Weise zu den Geheimnissen des 
Ewigen in allem Sein, der uns fuhren wird zu dem unaufhorlichen 
menschlichen Suchen nach den Quellen der Ewigkeit, nach denjeni- 
gen Quellen, innerhalb welcher auch der Heilsaft zu finden ist fur 
alles, was die Menschen, seit sie Verstandnis dafiir gewonnen haben, 
die allgewaltige Liebe nennen. Denn wo wir auch versammelt sind, 
da sind wir versammelt im Namen des Strebens nach Weisheit und 
des Strebens nach Liebe, da sind wir versammelt in der Sehnsucht 



nach den Quellen dieser Liebe. Und dasjenige, was ausgebreitet ist 
und betrachtet werden kann im weiten Umkreis des ganzen kosmi- 
schen Alls, das kann auch betrachtet werden in der ringenden Men- 
schenseele alluberall. Und das tritt uns dann ganz besonders entgegen, 
wenn wir den Blick hinwenden zu einer jener gewaltigen Kund- 
gebungen dieses ringenden Menschengeistes, wie sie gegeben sind in 
solchen Leistungen menschlichen Lebens, von denen wir eine zu- 
grunde legen den gegenwartigen Betrachtungen. Sprechen wollen wir 
von einer der grofken, der eindringlichsten Kundgebungen des 
menschlichen Geistes, von der uralten, aber in ihren Grundlagen 
gerade in unserer Zeit sich uns von erneuter Wichtigkeit erweisenden 
Bhagavad Gita. 

Es ist noch nicht lange her, da haben die Volker Europas, die 
Volker des Westens iiberhaupt, noch wenig gewufit von dieser 
Bhagavad Gita. Erst heute, ein Jahrhundert lang, verbreitet sich im 
Westen der Ruhm dieser wunderbaren Dichtung und die Kenntnis 
dieses wunderbaren Sanges. Aber gerade das soil der Gegenstand die- 
ses unseres Vortragszyklus diesmal sein, dafi die Erkenntnis - nicht 
die blofie Kenntnis - dafi die Erkenntnis der wundervollen morgen- 
landischen Gita im Grunde erst wird kommen konnen, wenn die 
Grundlagen dieses herrlichen Sanges sich immer mehr und mehr den 
Menschenseelen enthullen werden, diejenigen Grundlagen, welche 
man die okkulten Grundlagen desselben nennen kann. Denn ent- 
sprungen ist dasjenige, was uns in der Bhagavad Gita entgegentritt, 
noch einem Zeitalter, von dem wir im Zusammenhange unserer 
geisteswissenschaftlichen Betrachtungen ofter schon gesprochen haben, 
entsprungen sind die gewaltigen Empfindungen, Gefuhle und Ideen 
der Bhagavad Gita einem Zeitalter, in das noch hereingeleuchtet 
haben die Kundgebungen alten menschlichen Hellsehertums. Fur den- 
jenigen, der empfinden will, was Seite fur Seite die Bhagavad Gita 
aushaucht, wenn sie zu uns spricht, fur den gibt sich auch Seite fur Seite 
etwas kund wie ein Hauch uralten Hellsehertums der Menschheit. 

Es war die erste Bekanntschaft der westlichen Welt mit der 
Bhagavad Gita in einem Zeitalter gekommen, in dem diese westliche 
Welt nur mehr geringes Verstandnis hatte fur die ursprunglichsten 



ersten hellsichtigen Quellen dieser Bhagavad Gita. Dennoch schlug 
dieses hohe Lied der Gottheit oder, besser gesagt, von dem Gottlichen, 
wie ein Blitz in diese abendlandische Welt ein, so dafi ein Mann 
Mitteleuropas dazumal, als er zuerst bekannt wurde mit dem wunder- 
baren morgenlandischen Sang, unumwunden aussprach, er miisse sich 
gliicklich preisen, noch den Zeitpunkt erlebt zu haben, an dem er hat 
bekannt werden konnen mit jenem Wunderbaren, das in der Bhagavad 
Gita ausgesprochen ist. Und dieser Mann war nicht einer, der unbe- 
kannt war mit dem Geistesleben der Menschheit in den Jahrhunder- 
ten, ja Jahrtausenden; dieser Mann war einer, der tief hineingeschaut 
hat in das Geistesleben der Volker: es war Wilhelm von Humboldt, 
der Bruder des beriihmten Kosmos-Schreibers Humboldt. Auch 
andere Angehorige des Abendlandes, Menschen der verschiedensten 
Sprachgebiete, sie alle haben ahnlich empfunden. Wie bedeutsam 
aber wirkt doch dieses Empfinden, wenn man - es sei dieses einmal 
von dieser Seite her erwahnt - die Bhagavad Gita zunachst in ihren 
ersten Gesangen auf sich wirken lafit. 

Man mufi vielleicht gerade in unserem Kreise doch wohl oft sich 
erst zur vollen Unbefangenheit durcharbeiten, weil ja, trotzdem die 
Bhagavad Gita im Abendlande seit so kurzer Zeit bekannt ist, der 
heilige Sturm, mit dem sie die Seelen ergriffen hat, so gewirkt hat, 
dafi man von vornherein an sie herangeht mit dem Gefiihl, etwas wie 
ein Heiliges vor sich zu haben und sich nicht mehr ganz klar macht, 
wovon eigentlich der Ausgangspunkt genommen wird. Es sei einmal, 
vielleicht sogar etwas grotesk nuchtern, zunachst dieser Ausgangs- 
punkt vor unsere Seele hingestellt. 

Ein Gedicht stellt sich vor uns hin, das uns von den ersten Seiten 
an in den wildesten, sturmischsten Kampf hineinversetzt. Wir werden 
auf einen Schauplatz gefuhrt, der kaum weniger wild als derjenige 
ist, in den uns Homer in der Ilias sogleich hineinversetzt. Ja, wir ver- 
folgen weiter, wie dieser Schauplatz uns darstellt etwas, was eine der 
wichtigsten Personlichkeiten, die da auftreten, ja vielleicht die wich- 
tigste sogar, als einen Bruderkampf von vornherein empfindet, Ar- 
juna. Vor uns tritt auf dieser Arjuna wie einer, dem vor dem 
Kampfe graut, denn er sieht driiben unter den Feinden seine Bluts- 



verwandten. Der Bogen entsinkt ihm, indem er sich klar dariiber 
wird, da£ er eintreten soil in einen Kampf, in einen morderischen 
Kampf mit Menschen, die abstammen von denselben Ahnen, von 
denen er sich selber herleitet, durch deren Adern das gleiche Blut 
fliefit, wie es in den seinigen rinnt. Und wir fangen fast an mitzu- 
fiihlen mit diesem Sinkenlassen des Bogens, mit diesem Zuriickbeben 
vor dem furchtbaren Bruderkampf. Und aufsteigt vor unserem Blick 
der grofie geistige Lehrer dieses Arjuna, Krishna. Und eine grofi- 
artige, eine erhabene Lehre wird uns von Krishna in den wundervoll- 
sten Farben so vorgefiihrt, da£ dies alles als ein spiritueller Unter- 
richt an Arjuna erscheint, der sein Schiiler ist. Aber worauf will 
das alles zuletzt heraus? Das ist es, was man sich im Grunde genom- 
men erst einmal niichtern vor Augen fiihren mufi, was man nicht 
iibersehen darf. Worauf will das eigentlich heraus? Ja, es geniigt eben 
nicht, wenn man blofi sich einlafit auf die grofie, heilig erscheinende 
Lehre, die Krishna dem Arjuna gibt. Auch die Umstande, in denen 
sie gegeben wird, miissen ins Auge gefafit werden. Ins Auge miissen 
wir fassen, in welcher Situation Krishna den Arjuna auffordert, 
im Bruderkampf nicht zu bangen, aufzunehmen den Bogen und mit 
voller Kraft sich hineinzustiirzen in den verheerenden Kampf. Das 
mufi man sich auch vor Augen fiihren. Wie eine zunachst unver- 
standliche geistige Lichtwolke tauchen mitten im Kampfe Krishnas 
Lehren auf, und sie gelten der Aufforderung, nicht zuriickzubeben in 
diesem Kampfe, sondern darinnen zu stehen, die Pflicht zu tun in 
diesem Kampfe. Wenn man dies sich vor Augen fuhrt, so verwandelt 
sich fast diese Lehre gewissermafien durch den Rahmen. Aber dieser 
Rahmen fuhrt ja weiter hinaus in das ganze Gewebe des «Maha- 
bharata», des grofien, gewaltigen Sanges, von dem wiederum die Bha- 
gavad Gita ein Teil ist. Es fuhrt uns die Lehre Krishnas heraus in die 
Sturme der Alltaglichkeit, in die wirren Stiirme menschlicher Kamp- 
fe, menschlichen Irrtums, irdischen Streites. Es erscheint uns fast 
diese Lehre wie eine Rechtfertigung dieser Sturme der menschlichen 
Kampfe. Wenn wir dieses uns zunachst gewissermafien niichtern vor 
Augen fiihren, entstehen vielleicht doch noch ganz andere Fragen 
gegeniiber der Bhagavad Gita, als diejenigen sind, die dann entstehen, 



wenn man in mancherlei, dem man ein Verstandnis glaubt entgegen- 
bringen zu konnen, etwas findet wie bei den gewohnlichen menschli- 
chen Werken. Und vielleicht ist es notig hinzuweisen auf jenen Rah- 
men der Bhagavad Gita, um wirklich die welthistorische Bedeutung 
dieses grandiosen Sanges vor Augen fiihren zu konnen, und dann auf- 
merksam machen zu konnen auf dasjenige, wodurch uns die Bhagavad 
Gita immer mehr und mehr gerade in der Gegenwart von ganz be- 
sonderer Wichtigkeit werden kann. 

Ich sagte schon: wie etwas vollig Neues kam in die wesdiche Welt 
die Bhagavad Gita hinein, fast auch wie vollig neu dasjenige, was an 
Gefiihlen, Empfindungen und Gedanken der Bhagavad Gita zu- 
grunde liegt. Was kannte denn im Grunde genommen das, was west- 
landische Kultur ist, von morgenlandischer Kultur bis in diese Zeit 
herein, in welche die Bekanntschaft mit der Bhagavad Gita fiel? 
Abgesehen von mancherlei gerade in dem letzten Jahrhundert be- 
kannt gewordenen, sehr wenig! Abgesehen von gewissen geheim ge- 
bliebenen Bestrebungen, kannte die westliche Kultur gerade das nicht 
unmittelbar in seiner Bedeutung, was als Grundnerv, als wichtigster 
Impuls die ganze Bhagavad Gita durchzieht. Wenn man herankommt 
an solche Dinge wie die Bhagavad Gita, dann fiihlt man, wie wenig 
eigentlich menschliche Sprache, menschliche Philosophic, menschliche 
Ideen, die dem Alltag gelten und ihn beherrschen und fur ihn ja auch 
geniigen, wie wenig dieselben ausreichend sind, um zu charakteri- 
sieren solche Spitzen, solche Gipfelpunkte des menschlichen Geistes- 
lebens auf der Erde. Man braucht ja noch etwas ganz anderes als die 
gewohnlichen Schilderungen, um das zum Ausdruck zu bringen, was 
uns entgegenleuchtet aus einer solchen Offenbarung des menschlichen 
Geistes. 

Zwei Bilder mochte ich, damit sie eine Unterlage bilden fur die 
weiteren Schilderungen, zunachst vor unsere Seelen hinstellen. Das 
eine Bild aus der Bhagavad Gita selber, das andere aus dem west- 
landischen Geistesleben, und zwar so, daft es diesem westlandischen 
Geistesleben verhaltnismaftig nahe liegt, wahrend das Bild, das wir 
aus der Bhagavad Gita selber nehmen wollen, vorlaufig dem abend- 
landischen Geistesleben recht fern zu liegen scheint. Jetzt sei ein Bild 



vor unsere Seele zunachst hingestellt, das wir in der Bhagavad Gita 
selber finden: So verlauft ja der grofie erhabene Gesang, dafi uns 
geschildert wird, wie mitten in der Schlacht Krishna auftaucht und 
Weltengeheimnisse, gewaltige, grofie Lehren vor seinem Schiiler Ar- 
juna enthiillt. Dann iiberkommt diesen Schiiler der Drang, gestalten- 
haft, geistig gestaltet, diese Seele zu sehen, denjenigen wirklich zu 
erkennen, der so Erhabenes zu ihm spricht. Er bittet den Krishna, 
er moge sich ihm zeigen, so wie er sich ihm zeigen kann in 
seiner wahren Geistgestalt. Und da erscheint ihm denn Krishna - 
und wir werden noch auf diese Schilderung zuriickkommen -, 
da erscheint er in seiner Gestalt, die alles umfafit, eine grofie, 
erhabene, herrliche Schonheit, eine Erhabenheit, die Weltgeheim- 
nisse darstellt. Wir werden sehen, dafi es weniges gibt auf der 
Welt, das herrlich ist gleich dieser Schilderung, wie sich die 
erhabene Geistgestalt des Lehrers dem Seherauge seines Schii- 
lers offenbart. Ausbreitet sich vor dem Auge Arjunas das wiiste, 
wirre Kampfesfeld, auf dem viel Blut fliefien soli, auf dem 
der Bruderkampf sich entwickeln soil. Entriickt soil werden von die- 
sem wiisten, wirren Kampfesfeld die Seele des Schulers des Krishna, 
und erblicken soil die Seele dieses Schulers eine Welt, eintauchen soil 
sie in eine Welt, in der Krishna in seiner wahren Gestalt lebt, die 
entriickt ist allem Kampf, allem Streit, eine Welt hehrster, erhaben- 
ster Seligkeit, eine Welt, in der sich enthiillen die Geheimnisse des 
Daseins, eine Welt, entriickt der Alltaglichkeit, dem Kampf und 
Streit, eine Welt, der die Menschenseele ihrer innersten, eigensten 
Wesenheit nach eigentlich aber angehort. Von dieser Welt soil die 
Menschenseele wissen, wissen lernen soli sie von dieser Welt, und dann 
soil es ihr moglich werden, wiederum herabzusteigen, wieder einzu- 
greifen in die wirren, wiisten Kampfe der diesseitigen Welt. Wahr- 
haftig, wenn wir fuhlend der Schilderung dieses Bildes folgen, dann 
sagen wir uns: Was geht denn eigentlich vor in der Seele des Ar- 
juna? Wie ist sie denn, diese Seele? Sie steht mitten im Kampf ge- 
wiihl, und zwar so, wie wenn dieses Kampfgewuhl ihr aufgedrangt 
ware. So fiihlt sich diese Seele wie verwandt mit einer seligen Welt, in 
der es nicht gibt menschliches Leiden, menschlichen Kampf, mensch- 



liches Sterben. So sehnt sich diese Arjunaseele herauf in eine Welt 
des Ewigen, des Seligen. Aber mit einer Notwendigkeit, die sich nur 
ergeben kann aus dem Impuls des erhabenen Krishna, mufi diese Seele 
niedergezwungen werden zu dem wiisten, wirren, alltaglichen Kampf. 
Sie will den Blick abwenden von diesem wirren, wiisten Kampf. Wie 
ein Fremdes, wie ein ihr ganz und gar nicht Verwandtes, so erscheint 
das Leben der Erde, wie es ringsherum ist, fiir diese Arjunaseele. 
Wir fiihlen formlich: Diese Seele ist noch eine solche, die sich in die 
oberen Welten hinaufsehnt, als ob sie mit den Gottern noch leben 
wollte, und das Leben der Menschen noch wie ein Fremdes, ein Un- 
verwandtes, ein Unverstandliches empfindet. Wahrhaftig, ein wun- 
derbares Bild, das grofite und erhabenste Momente enthalt: ein Held, 
Arjuna, umgeben von anderen Helden, von Kampferscharen, ein 
Held, der alles, was sich ihm vor Augen ausbreitet, wie ein Fremdes, 
Jenseitiges, Unverwandtes empfindet, der erst hingewiesen werden 
mufi auf diese Welt durch einen Gott, und der nicht versteht die dies- 
seitige Welt, ohne dafi ein Gott sie ihm verstandlich macht, Krishna. 

Scheinbar recht paradox mag es klingen, aber ich weifi doch, dafi 
diejenigen, die tiefer auf die Sache eingehen konnen, es verstehen 
werden, wenn ich das Folgende sage. Arjuna stent da vor uns wie 
eine Menschenseele, der erst verstandlich gemacht werden soil das 
Diesseits der Welt, das Irdische der Welt. Und nun sollte die Bhagavad 
Gita in den westlichen Kulturlandern wirken auf Menschen, die sehr 
wohl ein Verstandnis haben fiir alles Irdische, die es im Materialismus 
so weit gebracht haben, dafi sie ein sehr gutes Verstandnis haben fiir 
alles Irdische, fiir alles Materielle. Verstandlich werden sollte die 
Bhagavad Gita fiir Seelen, die durch eine tiefe Kluft geschieden 
sind von alle dem, was sich bei einer wahrhaftigen Betrachtung als 
die Arjunaseele darstellt. Alles das, wozu die Arjunaseele, die durch 
Krishna erst herangebandigt werden mufi zum Irdischen, keinen 
Trieb zeigt, das scheint den Abendlandern sehr verstandlich zu sein. 
Die Schwierigkeit scheint darin zu liegen, sich zu erheben zu der 
Arjunaseele, zu jener Seele, der erst Verstandnis beigebracht werden 
soli fiir alles das, wozu in den westlichen Landern sehr viel Verstand- 
nis vorhanden ist: fiir das Sinnliche, fiir das Materiell-Irdische. Ein 



Gott, Krishna, mufi dem Arjuna ein Verstandnis beibringen fur alles 
dasjenige, was uns als unsere Kultur umgibt. Wie leicht wird es in 
unserer Zeit, dem Menschen Verstandnis beizubringen fur dasjenige, 
was ihn umgibt. Dazu bedarf es keines Krishna. Man tut gut daran, 
einmal klar den Blick hinzuwenden auf die Abgriinde, welche zwi- 
schen menschlichen Naturen liegen konnen, und nicht allzuleicht das 
Verstandnis zu nehmen, das eine abendlandische Seele gewinnen kann 
fur eine Natur, wie sie Krishna oder Arjuna ist. Arjuna ist ein 
Mensch, aber ein so ganz anderer als die Menschen, die in der abend- 
landischen Kultur nach und nach sich herangebildet haben. 

Das ist das eine Bild, von dem ich sprechen will, denn Worte 
konnen nur wenig in diese Dinge hineinfuhren. Bilder, die wir erfas- 
sen wollen mit unseren Seelen, konnen das mehr, da sie nicht nur zum 
Verstandnis sprechen, sondern zu dem, was ewig auf der Erde tiefer 
sein wird als alles Verstandnis, zu der Empfindung und dem Gefiihl. 

Nun mochte ich ein anderes Bild hinstellen vor unsere Seelen, ein 
Bild, von dem ich nicht sagen will, dafi es weniger erhaben sei als 
dieses Bild der Bhagavad Gita, das aber unendlich viel naher steht 
demjenigen, was westlandische Kultur ist. Da gibt es ein erhabenes 
Bild, ein schemes, poetisches Bild, von dem der Westlander sogar 
weift, und das fur ihn viel bedeutet. Was meine ich damit eigentlich? 
Ein Bild habe ich hingestellt: die Erscheinung des Krishna vor dem 
Arjuna. Fragen wir nun: Wieviel in der westlandischen Entwicke- 
lung stehende Menschen glauben an die Wirklichkeit dieses Bildes, 
glauben, dafi einmal dieser Krishna vor Arjuna erschien und so 
gesprochen hat? Fragen wir einmal, wieviel westlandische Seelen an 
die Wirklichkeit dieses Bildes glauben. - Allerdings stehen wir am 
Ausgangspunkte einer Weltanschauung, die es dahin bringen wird, 
dafi das nicht nur ein Glaube, sondern ein Wissen sein wird. Aber 
wir stehen eben am Ausgangspunkte dieser Weltanschauung, am Aus- 
gangspunkte der anthroposophischen Weltanschauung. Das andere 
Bild steht uns viel naher. Es liegt wirklich in ihm etwas, fur das die 
westlandische Kultur einen Sinn hat. 

Wir schauen hin einige Jahrhunderte vor der Begriindung des 
Christentums auf eine Seele, die ein halbes Jahrtausend vor der Be- 



griindung des Christentums einer der grofiten Geister des Abend- 
landes in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen gezogen hat. Auf So- 
krates schauen wir hin und schauen hin im Geiste auf den sterbenden 
Sokrates. Sokrates, der sterbende Sokrates, wie ihn Plato im Kreise 
der Schiiler schildert in seinem beriihmten Gesprach liber die Unsterb- 
lichkeit der Seele. In diesem Bilde wird nur sparlich angedeutet das 
andere, das Jenseitige, dargestellt als der Damon, der zu Sokrates 
spricht. Sokrates stehe vor uns in den Stunden, die vorangegangen 
sind seinem Hineingehen in die spirituellen Welten, umgeben von 
seinen Schiilern. Er spricht im Angesichte des Todes von der Un- 
sterblichkeit der Seele. Viele lesen dieses wunderbare Gesprach von 
der Unsterblichkeit, das Plato uns gegeben hat, um gerade diese Szene 
seines sterbenden Lehrers zu schildern. Aber es lesen heute die Men- 
schen nur Worte, Begriffe und Ideen. Es gibt sogar Menschen - und 
sie sollen nicht getadelt werden - die sich gegeniiber dieser herrlichen 
Schilderung Platos fragen nach den logischen Berechtigungen des- 
jenigen, was der sterbende Sokrates seinen Schiilern auseinandersetzt. 
Es sind das diejenigen Menschen, die nicht empfinden konnen, dafi 
es mehr gibt fur die Menschenseele, dafi Wichtigeres, Bedeutungs- 
volleres als logische Beweise, als wissenschaftliche Auseinander- 
setzungen in unseren Seelen lebt. Lassen wir ganz dasjenige, was So- 
krates uber die Unsterblichkeit sagt, lassen wir den allergebildetsten, 
den allertiefsten, den allerfeinsten Menschen im Kreise seiner Schiiler 
in einer anderen Situation das sagen, was Sokrates seinen Schiilern 
sagt, lassen wir es ihn unter anderen Umstanden sagen, ja lassen wir 
hundertmal mehr das, was dieser feinste, logischste, gebildetste Mensch 
sagt, besser logisch begriindet sein, als dies bei Sokrates ist: und trotz- 
dem hat es vielleicht einen hundertmal geringeren Wert! Dies wird 
man erst voll einsehen, wenn man beginnen wird griindlich zu ver- 
stehen, dafi es etwas fur die Menschenseele gibt, was mehr wert ist, 
wenn es auch unscheinbarer scheint, als die stichhaltigsten logischen 
Beweise. Wenn irgendein gebildeter, f einer Mensch in irgendeiner 
Stunde zu seinen Schiilern von der Unsterblichkeit der Seele spricht, 
so kann das wohl sehr bedeutsam sein. Aber die eigentliche Bedeu- 
tung wird nicht enthullt durch das, was gesagt wird - ich weifi, ich 



spreche jetzt etwas sehr Paradoxes aus, aber etwas sehr Wahres -, 
sondern es wirkt der Umstand mit, dafi dieser Lehrer seinen Schiilern 
etwas sagt, hinterher aber die gewohnlichen Angelegenheiten seines 
Lebens weiter besorgt und seine Schuler auch. Sokrates sagt die Dinge 
seinen Schiilern in der Stunde, die seinem Durchschreiten der Todes- 
pforte vorangeht. Er spricht die Lehre von der Unsterblichkeit der 
Seele aus in dem Augenblicke, da in dem nachsten sich seine Seele 
von dem aufieren Leibe trennen wird. Es ist etwas anderes, in der 
Todesstunde, die nicht als unbestimmt vom Schicksal ihm entgegen- 
kommt, zu den zuriickbleibenden Schiilern von der Unsterblichkeit 
zu sprechen, etwas anderes, nach diesem den gewohnlichen Tages- 
geschaften nachzugehen. Es ist etwas anderes, nach einem solchen 
Gesprache auch wirklich einzugehen in die Welten, die hinter der 
Todespforte liegen. Nicht die Worte des Sokrates sollen vorzugs- 
weise auf uns wirken, die Situation soil es tun. Aber nehmen wir alle 
Starke desjenigen, was eben versucht worden ist zu charakterisieren, 
nehmen wir all das, was uns in dem Gesprach des Sokrates zu seinen 
Schiilern iiber die Unsterblichkeit wie ein Hauch entgegentritt, neh- 
men wir die ganze, unmittelbare Kraft dieses Bildes, was haben wir 
da vor uns? Die griechische Welt, die Welt der griechischen Alltag- 
lichkeit haben wir vor uns, jene Welt, in der des Lebens Alltags- 
kampfe dazu gefuhrt haben, den besten der Sonne des Landes mit 
dem Schierlingsbecher zu bedenken. Wir haben vor uns die letzten 
Erdenworte dieses edlen Griechen, die letzten Worte, die er nur dazu 
bestimmte, die Menschen, die um ihn herumstehen, dahin zu bringen, 
daft ihre Seelen glauben an dasjenige, von dem sie ein Wissen nicht 
mehr haben konnen, dafi ihre Seelen glauben an das, was fur sie ein 
Jenseits ist, an die geistige Welt. Dafi ein Sokrates notwendig ist, um 
mit den starksten Griinden, namlich durch die Tat, Erdenseelen dazu 
zu bringen, daft sich fur sie ein Ausblick ergibt in die spirituellen 
Welten, in denen die Seele lebt, wenn sie durch die Todespforte ge- 
gangen ist, das zaubert vor unsere Seele ein Bild hin, das westlandi- 
schen Seelen wohl verstandlich ist. Sokrateskultur ist westlandischen 
Seelen wohl verstandlich. Sokrates vor seinen Schiilern stehend, die 
so unmittelbar vor der Wirklichkeit des Todes stehen: dieses Bild 



ist allerdings abendlandischen Seelen verstandlich. Wir begreifen 
abendlandische Kultur nur dann recht, wenn wir wissen, dafi sie in 
diesem Sinne doch sokratische Kultur durch die Jahrhunderte, durch 
die Jahrtausende war. 

Vergleichen wir aber einen der Schuler des Sokrates, der wahr- 
haftig keinen Zweifel haben konnte an demjenigen, was ihn umgab - 
denn er war ja ein Grieche — , vergleichen wir, wie dieser eingefuhrt 
werden mufi in die ubersinnliche Welt, vergleichen wir das mit dem 
Schuler des Krishna, mit Arjuna, der gar keine Zweifel haben 
kann an der iibersinnlichen Welt, der aber irre wird an seiner Ver- 
wandtschaft, an dem ganzen Bestande, ja, an der Moglichkeit fast der 
Sinnenwelt. 

Ich weifi sehr gut, dafi historische Wissenschaft, philosophische 
Wissenschaft, alle moglichen Arten von Wissenschaften jetzt kommen 
konnen und mit scheinbar recht guten Griinden sagen konnten: Ja, 
aber schau doch nur hin, was da in der Bhagavad Gita steht, und was 
bei Plato steht. Man kann von alle dem ebensogut das Gegenteil be- 
weisen, das Gegenteil von dem, was du eben ausgesprochen hast. — 
Aber ich weifi auch, dafi diejenigen, die so sprechen, nicht empfinden 
wollen die tieferen, grandiosen Impulse, die auf der einen Seite jenem 
Bilde der Bhagavad Gita entlehnt sind, auf der anderen Seite dem 
Bilde des sterbenden Sokrates, wie Plato ihn schildert. Ein Abgrund 
liegt doch zwischen diesen zwei Welten bei alle dem, was man an 
Ahnlichkeit wiederum herausfinden konnte. Warum ist dieses so? 

Es ist so, weil die Bhagavad Gita am Ende des alten hellseheri- 
schen menschlichen Zeitalters steht, weil in der Bhagavad Gita etwas 
herauftont zu uns, wie der letzte Nachklang alten menschlichen Hell- 
sehertums; weil auf der anderen Seite in dem sterbenden Sokrates 
uns einer der ersten jener Menschen entgegentritt, die da rangen durch 
Jahrtausende mit jener menschlichen Erkenntnis, mit jenen mensch- 
lichen Ideen, Gedanken und Empfindungen, die wie herausgeworfen 
sind aus dem alten Hellsehertum, die sich entwickelten in der Zwi- 
schenzeit, da sie sich vorzubereiten hatten zu einem neuen Hellseher- 
tum, dem wir heute zustreben durch die Verkiindigung und Auf- 
nahme dessen, was wir die anthroposophische Weltanschauung 



nennen. Es ist in einer gewissen Beziehung keine Kluft tiefer als die- 
jenige, die sich auftut zwischen Arjuna, dem Krishnaschiiler, und 
einem Sokratesschiiler. Aber wir leben in einer Zeit, in welcher die 
menschlichen Seelen, nachdem sie jahrhundertelang in ihrem Laufe 
durch verschiedene Verwandlungen, durch ihre Inkarnationen hin- 
durch gesucht haben das Leben in aufierer Erkenntnis, den Zusam- 
menschlufi wieder suchen mit den spirituellen Welten. Im Grande 
genommen ist, daft Sie hier sitzen, der lebendigste Beweis, daft in 
Ihnen solche Seelen leben, die den Zusammenschlufi suchen, jenen 
Zusammenschlufi, der hinauffiihren soli in erneuerter Weise die Seelen 
zu solchen Welten, die uns, wie in einer wunderbaren Offenbarung, 
entgegenklingen in demjenigen, was Krishna seinem Schiiler Arjuna 
verkiindet. Deshalb kann wie etwas, was tiefsten Sehnsuchten unserer 
Seelen entspricht, vieles zu uns klingen, was der Bhagavad Gita 
okkult zugrunde liegt. 

In alten Zeiten war der Seele das Band vertraut, das sie verbindet 
mit dem Geistigen. Das Ubersinnliche, das Jenseitige, das Spirituelle 
war ihr wohlvertraut. Am Ausgangspunkte einer Zeit stehen wir, in 
der die Menschenseele wieder sucht den Zugang, jetzt in erneuter 
Weise, zu den ubersinnlichen, spirituellen Welten. Wie eine Aneife- 
rung zu diesem Suchen mufi es uns erscheinen, wenn wir uns sagen 
konnen, wie das, was wir suchen, ja schon einmal da war in einer 
gewissen Weise, die allerdings nicht mehr die unsrige sein kann, aber 
doch eben einmal da war. Und zwar werden wir in ganz besonders 
hohem Grade dieses, was schon einmal da war, in den Offenbarungen 
des heiligen Sanges des Morgenlandes finden, in den Offenbarungen 
der erhabenen Gita, von Krishna an seinen grofien Schiiler Arjuna 
gerichtet. 

Ja, bedeutungsvoll, wie in der Regel bei groften menschlichen 
Schopfungen gleich die ersten Worte erscheinen - erscheinen uns die 
ersten Worte der Ilias, der Odyssee doch bedeutungsvoll -, so erschei- 
nen auch bedeutungsvoll die ersten Worte der Bhagavad Gita. Er- 
zahlt wird dasjenige, was da dargestellt werden soil, von seinem 
Wagenlenker an den blinden Konig und das Haupt der Kurupartei, 
der eben im Bruderkampfe liegt mit der Pandavapartei. Ein blindes 



Oberhaupt! Dieses erscheint uns schon wie symbolisch. Die Menschen 
der alten Zeit hatten ja eben den Blick hinein in die geistigen Welten, 
sie lebten gleichsam mit ihrem ganzen Gemiite, mit ihrer ganzen 
Seele, mit Gottern und Geistern in Zusammenhang. Alles, was hier 
auf dem Erdkreise sie umgab, erschien ihnen nur unter fortwahrendem 
Zusammenhange mit dem gottlich-geistigen Dasein. Dann kam eine 
andere Zeit. Und ebenso, wie uns Homer von der griechischen Sage 
als blind geschildert wird, so wird uns auch als blind geschildert das 
Haupt der Kurupartei, dem erzahlt werden die Gesprache, die 
Krishna zu seinem Schuler spricht und die diesen Mann uber das- 
jenige, was sich in der sinnlichen Welt abspielt, unterrichten. Ja, er- 
zahlt mufi ihm sogar dasjenige werden, was hereinragt von der geisti- 
gen Welt in die sinnliche Welt hinein. Bedeutsam ist das Symbol, 
wie gegenuber einer unmittelbaren Umwelt blind waren die alten 
Menschen, deren Seelen hinaufreichten mit aller Erinnerung, mit 
allem geistigen Zusammenhange in uralte Zeiten. Sehend waren sie 
im Geiste, schauend in der Seele, diejenigen, die wie in hoheren Bil- 
dern erleben konnten alles, was als geistige Geheimnisse lebte. Die- 
jenigen, die in tieferem Sinne verstehen sollten, was sich in der Welt 
abspielt, die dieses verstehen sollten in seinem geistigen Zusammen- 
hange, die werden uns in den alten Sagen und Sangen als blind dar- 
gestellt. So begegnen wir demselben Symbol ebenso bei dem griechi- 
schen Sanger Homer wie bei jener Gestalt, die uns gleich im Eingange 
der Bhagavad Gita entgegentritt. Und in welche Zeit werden wir 
hineingefiihrt? In die Zeit, die uns auch in anderer Art als die Zeit 
des Uberganges der Urmenschheit in die gegenwartige Menschheit 
ofters dargestellt worden ist. Warum aber wirkt auf Arjuna so 
stark der Umstand, dafS der Bruderkampf stattfinden soli? 

Wir wissen es ja, dafi das alte Hellsehen gewissermafien gebunden 
war an den aufieren Blutzusammenhang. Blutzusammenhang, das 
Fliefien des gleichen Blutes in den Adern einer Menschenschar, war in 
alten Zeiten mit Recht etwas heilig Verehrtes. Denn daran war ge- 
bunden das alte Wahrnehmen einer gewissen Gruppenseele. Die Men- 
schen, die blutsverwandt sich nicht nur fiihlten, sondern sich wufiten, 
in denen lebte eigentlich noch nicht ein solches Ich wie im gegenwar- 



tigen Menschen. Wo wir auch hinschauen, finden wir in den uralten 
Zeiten iiberall Zusammenhange, in denen der einzelne Mensch sich 
gar nicht mit einem solchen Ich fiihlte, wie es heute der Mensch tut, 
sondern als allein bestehend in der Gruppe, in einer Gemeinschaft, die 
die Gemeinschaft des Blutes darstellte. Was bedeutet dem Menschen 
heute Stammesseele, Nationalseele, Volksseele? Gewifi, manchmal ist 
diese Nationalseele zum Beispiel, oder Volksseele, Gegenstand groftter 
Begeisterung, aber wir diirfen sagen: gegeniiber dem menschlichen 
einzelnen Ich kommt sie doch nicht auf, diese Volksseele, diese 
Stammesseele. - Es mag ein harter Ausspruch sein, aber wahr ist er. 
Denn es ist so, daft der Mensch einstmals nicht zu sich «Ich» gesagt 
hat, sondern zu der Gruppe seines Stammes oder Volkes. Dieses 
Gefiihl fur Gruppenseelenhaftigkeit lebt aber noch in Arjuna, 
da er den Bruderkampf um sich wiiten sieht. Er versteht noch nicht 
zu sich «Ich» zu sagen, er versteht es noch besser, jenes Gruppen-Ich 
zu fiihlen, das sich in alien jenen Seelen aufterte. Das macht es, daft 
ihm so grauenvoll der Kampf ist, der um ihn tobt. 

Versetzen wir uns in diese Arjunaseele, so daft wir empfinden, 
daft da etwas wie ein Grauen lebt, daft sich da etwas morden will, 
was zusammengehort, eine Seele, die empfindet, was in alien Seelen 
lebt und was sich toten will. Versetzen wir uns in diese Arjuna- 
seele, die empfindet, wie sich Briider toten, in Stiicke reiften wollen, 
die empfindet, wie wenn eine Seele empfinden wiirde, daft das- 
jenige, was doch zu ihr gehort, der Leib, in Stiicke gerissen wird. So 
empfindet die Arjunaseele, wie wenn die Glieder eines Leibes, das 
Herz mit dem Haupte kampfen wiirde, die linke Hand gegen die 
rechte Hand. Bedenken wir, daft diese Seele so dem Kampfe, der da 
stattfinden soli, gegeniibersteht, daft dieser Kampf als ein Kampf 
gegen die eigene Leiblichkeit erscheint. Bedenken wir, was diese Seele 
fiihlt in dem Augenblicke, wo sie den Bogen sinken laftt, wo der 
Kampf der Briider ihr erscheint wie ein Kampf der rechten gegen die 
linke Hand des Menschen: dann fiihlen wir die Stimmung des Ein- 
ganges der Bhagavad Gita, dann fiihlen wir — ich muft da etwas 
sagen, was wiederum scheinbar, aber nur scheinbar, paradox, grotesk 
sich hinstellt, was scheinbar gegen allerheiligste Empfindungen 



spricht -: Arjuna steht da, begreift noch nicht recht das Einzel-Ich, 
begreift aber das alte, das Gruppen-Ich, das sich ihm so unnatiirlich 
im Kampfe darstellt. In dieser Stimmung tritt ihm gegeniiber 
Krishna, der grofie Lehrer. - Wir miissen es einmal aussprechen, wie 
mit der grofiten Kunst, mit der unvergleichlichsten Kunst Krishna, 
der heilige Gott, dasteht dem Arjuna gegeniiber, indem er dem 
Arjuna beibringt, was der Mensch sich abgewohnen soil und wollen 
mufi, wenn er im rechten Sinne in seiner Evolution aufsteigen will. 

Verfolgen wir diesen Krishna und seine Lehre weiter. Was sagt er 
denn eigentlich? Wovon spricht er? Von Ich und Ich und Ich und 
immer nur von Ich. Ich bin in der Erde, Ich bin im Wasser, Ich bin 
in der Luft, Ich bin im Feuer, Ich bin in alien Seelen, Ich bin in alien 
Lebensaufierungen, selbst noch im heiligen Aum, Ich bin der Wind, 
der durch die Walder geht, Ich bin der wertvollste unter den Bergen, 
Ich bin unter den Fliissen der wertvollste, Ich bin der wertvollste der 
Menschen, Ich bin unter den Seligen der alte Seher Kapila. - Wahr- 
haftig, dieser Krishna sagt ja nichts geringeres, als: Ich erkenne nichts 
anderes an als mich selber, und ich lasse die Welt nur gelten, insofern 
sie Ich ist. — Ich und Ich und Ich und nichts anderes spricht aus den 
Lehren des Krishna. 

Machen wir uns das einmal ganz unverbliimt klar, wie Arjuna 
dasteht, der das Ich noch nicht begreift, der es aber begreifen soli, 
und wie ihm gleich einem umfassenden, universellen kosmischen 
Egoisten entgegentritt der Gott, der nichts gelten lafit als sich selber, 
und sogar verlangt, dafi auch die anderen nichts gelten lassen als ihn 
selber, ja, dafi man in allem, was in Erde, Wasser, Feuer, Luft, in 
allem, was auf der Erde lebt, ja in allem, was in der Dreiwelt lebt, 
nichts anderes sieht als ihn. 

Merkwiirdig tritt uns entgegen, wie jemandem, der das Ich noch 
nicht begreifen kann, ein Wesen wie im Unterrichte entgegengefuhrt 
wird, das in Anspruch nimmt, nur als sein eigenes Selbst anerkannt 
zu werden. Wer im Lichte der Wahrheit dies sich ansehen will, lese 
die Bhagavad Gita durch und suche die Frage zu beantworten, mit 
welchem Worte man dasjenige, was der Krishna von sich sagt und 
wovon er verlangt, dafi man es anerkennen soil, mit welchem Worte 



man das bezeichnen soli. Universeller Egoismus, das ist es, was aus 
Krishna spricht. Und so scheint uns denn, dafi aus der erhabenen Gita 
alliiberall der Refrain an unser geistiges Ohr tont: Nur wenn ihr an- 
erkennt, ihr Menschen, meinen allumfassenden Egoismus, dann ist 
Heil fur euch. 

Die grofiten Leistungen des menschlichen Geisteslebens geben uns 
immer Ratsel auf; nur dann sehen wir sie im rechten Lichte, wenn wir 
auch anerkennen und erkennen, daft sie uns die groften Ratsel auf- 
geben. Wahrhaftig, ein hartes Ratsel scheint uns aufgegeben zu sein, 
wenn wir jetzt vor der Aufgabe stehen, zu begreifen das, was wir 
nennen konnen eine erhabenste Lehre, verbunden mit der Verkiindi- 
gung des universellen Egoismus. Nicht durch Logik, sondern in ge- 
schauten grofien Widerspriichen des Lebens enthullen sich uns die 
okkulten Geheimnisse. Es wird unsere Aufgabe sein, auch iiber jenes 
Merkwiirdige hinweg innerhalb der Maya zu der Wahrheit zu kom- 
men, so dafi wir erkennen, was das eigentlich ist, was wir, wenn wir 
innerhalb der Maya sprechen, zu Recht einen universellen Egoismus 
nennen. Aus der Maya heraus miissen wir durch dieses Ratsel gelangen 
in die Wirklichkeit, in das Licht der Wahrheit. Wie es sich damit 
verhalt, wie wir iiber dieses hinwegkommen werden in die Wirklich- 
keit, das soli die Aufgabe unserer nachsten Vortrage sein. 



ZWEITER VORTRAG 



Helsingfors, 29. Mai 1913 



Wenn man sich in die okkulten Urkunden der verschiedenen Zeiten 
und Volker, das heifit in die wirklich okkulten Urkunden vertieft, so 
fallt einem unter anderm eines immer wieder und wiederum auf. 
Das ist etwas, worauf ich schon hinweisen konnte bei der Bespre- 
chung des Johannes-Evangeliums, worauf ich spater hinweisen konnte 
bei der Besprechung des Markus-Evangeliums. Es ist die Tatsache, 
dafi, wenn man tiefer in diese okkulten Urkunden eindringt, man 
immer mehr und mehr sich klar wird dariiber, dafi eigentlich diese 
okkulten Urkunden in einer wunderbaren, kunstlerischen Komposi- 
tion abgefalk sind. Ich konnte nachweisen - und Sie konnen das 
nachlesen in dem Zyklus, den ich einstmals in Kassel gehalten habe, 
der ja auch gedruckt ist, iiber «Das Johannes-Evangelium im Verhalt- 
nis zu den drei anderen Evangelien, besonders zu dem Lukas-Evange- 
lium» -, ich konnte zeigen, wie dieses Johannes-Evangelium, wenn 
man in die Tiefen dringt, eine wunderbare Komposition darstellt, 
eine wunderbare, kunstlerisch dramatische Steigerung des Dargestell- 
ten zunachst bis zu einem Punkte herauf, dann wiederum von diesem 
Punkte aus wie eine Erneuerung der dramatischen Kraft bis zum 
Schlusse hin. Wunderbarste Steigerung dieser inneren, kiinstlerisch- 
dramatischen Komposition, die in dem Johannes-Evangelium dadurch 
zutage tritt, dafi von sogenannten wunderbaren Taten oder von so- 
genannten Zeichen das Ubersinnliche von Zeichen zu Zeichen dar- 
gestellt wird und von Zeichen zu Zeichen eine fortwahrende Steige- 
rung stattfindet bis zu jenem Zeichen, das uns entgegentritt in der 
Initiation des Lazarus. Die Art, wie uns dies entgegentritt, lafit uns 
ersehen, dafi auf dem Grunde dieser okkulten Urkunden immer eine 
wunderbare kunstlerische Schonheitskomposition iiberall zu finden 
ist. Ich konnte auch dasselbe nachweisen fur die Gliederung und 
Komposition des Markus-Evangeliums. Wenn dann solche Urkunden 
auf ihre Schonheitskomposition hin, auf ihre dramatische Kraft hin 
angesehen werden, dann kann man wohl zu der Anschauung kom- 



men, daft diese groften, okkulten Urkunden gar nicht anders sein 
konnen, als, indem sie wahr sind, zugleich im tiefsten Sinne kiinstle- 
risch schon komponiert. Zunachst sei auf diesen Umstand als auf 
eine Tatsache nur hingewiesen. Wir werden vielleicht im Verlaufe 
dieser Vortrage noch einmal auf diese Bemerkung zuriickkommen. 

Das Merkwiirdige ist nun, daft uns auch bei der Bhagavad Gita 
wiederum dasselbe entgegentritt, eine wunderbare Steigerung, man 
mochte sagen, eine verborgene kunstlerische Schonheit, so daft, wenn 
auch gar nichts anderes wirken wiirde auf die Seele, die sich vertieft 
in diese Bhagavad Gita, wirken miiftte diese wunderbare, kunstlerische 
Komposition. Auf einige der Hauptpunkte sei zunachst aufmerksam 
gemacht - und ich werde mich heute beschranken auf die vier ersten 
Gesange -, auf einige Hauptpunkte sei deshalb aufmerksam gemacht, 
weil diese Hauptpunkte zugleich betreffen die kunstlerische Kompo- 
sition der Bhagavad Gita und tiefe innere okkulte Wahrheiten. 

Zuerst tritt uns entgegen Arjuna. Im Angesicht des Blutver- 
gieftens, in das er eintreten soli, wird er schwach. Er sieht seine Bluts- 
verwandten, alles dasjenige, was als Bruderkampf um ihn herum sich 
abspielen soil. Er bebt zuriick, er will nicht gegen seine eigenen Bluts- 
verwandten kampfen. Und wahrend er in dieser Stimmung ist, wah- 
rend ihn also Angst, Furcht, Schauder, ja ein Grauen befallt vor dem- 
jenigen, was da kommen soil, entpuppt sich ihm sein Wagenlenker 
als das Instrument, durch das Krishna, sagen wir zunachst der Gott, 
zu ihm spricht. Schon in diesem ersten Faktum wird erstens ein 
kunstlerisches Spannungsmoment, dann aber auch ein tiefgriindiges, 
okkultes Wahrheitsmoment angedeutet. 

Derjenige, der in irgendeiner Weise den Weg findet hinein in die 
geistigen Welten, und wenn es auch nur wenige Schritte des Weges 
sind, ja selbst wenn das, was er erleben kann, nur eine Ahnung des 
Weges ist, der bemerkt die tiefe Bedeutung gerade dieses Momentes. 
Wir kommen in der Regel nicht in die geistigen Welten hinein, ohne 
daft wir durch eine tiefe Erschiitterung unserer Seele schreiten. Etwas 
mussen wir erfahren in der Regel, etwas, das all unsere Kraft der 
Seele durchruttelt, sie durchstromt in Gefuhl und Empfindung. Ge- 
fiihl und Empfindung, die sonst nur uber viele Momente, uber weite 



Zeitlaufe des Lebens verteilt sind und deshalb nur schwach fort- 
dauernd auf die Seele wirken, beim Eingang in die okkulten Welten 
drangen sie sich zusammen und durchwiihlen und durchkraften die 
Seele in einem einzigen Moment, so dafi man so etwas Erschutterndes 
erlebt, das der Furcht, der Angst, der Bestiirzung, dem Zuriickbeben 
vor irgend etwas, vielleicht auch dem Grauen verglichen werden 
kann. Das gehort einmal sozusagen zu dem Ausgangspunkte okkulter 
Entwickelung, zu dem Eintreten in die geistigen Welten. Daher mufi 
ja auch so grofie Sorgfalt verwendet werden auf jene Ratschlage, die 
demjenigen gegeben werden miissen, der durch eine Schulung in die 
geistigen Welten eintreten will. Denn wer durch Schulung in die gei- 
stigen Welten eintreten will, der mufi so vorbereitet werden, dafi er 
die eben charakterisierte Erschutterung als seelisches Ereignis, als not- 
wendiges Erlebnis so durchlebt, dafi es nicht ubergreift auf seine 
Leiblichkeit, auf seine Gesundheit, insofern das Leibliche mit einbe- 
griffen ist, dafi dieses nicht mit erschuttert werde. Das ist das Wesent- 
liche, dafi wir nicht in bezug auf das aufiere, physische Leben in Er- 
schutterungen kommen, dafi wir ertragen lernen mit aufierem Gleich- 
mut, mit aufierer Gelassenheit Erschiitterungen der Seele. Dann aber 
diirfen auch die gewohnlichen Seelenkrafte, die wir im Alltagsleben 
brauchen, unsere gewohnliche Intellektualitat, ja, selbst die fiir das 
Alltagsleben notwendigen Phantasiekrafte, die Krafte des Empfin- 
dens, die Krafte des Willens im alltaglichen Leben, auch sie diirfen 
nicht aus dem Gleichgewicht gebracht werden. In viel tieferen Schich- 
ten mufi vorgehen die Seelenerschutterung, die der Ausgangspunkt 
sein kann fur das okkulte Leben, so dafi der Mensch durch das 
aufiere Leben geht, wie er immer gegangen ist, ohne dafi irgend etwas 
ihm angemerkt wird in der aufieren physischen Welt, wahrend er im 
Innern ganze Welten von Seelenerschiitterungen durchlebt. Das heifit 
reif sein fur die okkulte Entwickelung, so innerlich Erschutterndes 
erleben zu konnen, ohne das aufiere Gleichmafi, die aufiere Gelassen- 
heit zu verlieren. 

Dazu ist notwendig, dafi der Mensch in der Zeit, in der er reif zu 
werden sich bestrebt fiir die okkulte Entwickelung, vor allem seine 
Interessenkreise erweitert, dafi er von dem gewohnlichen, alltaglichen 



Leben abkommt mit seinem Interessenkreise, von dem, woran man 
sonst vom Morgen bis zum Abend hangt, abkommt, und dafi er zu 
Interessen gelangt, die sich auf dem grofien Horizont der Welt be- 
wegen. Denn wer nicht erleben kann das Erschiitternde des Zweifels 
an aller Wahrheit, an aller Erkenntnis und allem Wissen, und dieses 
Erschiitternde nicht erleben kann mit jener Starke, in der sonst von 
dem Menschen nur empfunden werden die Interessen des alltaglichen 
Lebens, wer nicht mitfuhlen kann mit dem Schicksal der ganzen 
Menschheit und diesem Schicksale der ganzen Menschheit nicht ein 
solches Interesse entgegenbringt, wie es im alltaglichen Leben entge- 
gengebracht wird dem Schicksale, das einen selbst unmittelbar be- 
riihrt, das vielleicht noch die nachsten Stammes-, Familien- und 
Volkszusammenhange beriihrt, der ist im Grunde noch nicht ganz 
geeignet fur eine okkulte Entwickelung. Daher ist ja auch die mo- 
derne Geisteswissenschaft, wenn sie in Ernst und Wiirde getrieben 
wird, die richtige Vorbereitung in unserer Zeit fur eine wahrhafte, 
okkulte Entwickelung. Mogen die Menschen, die kein Interesse ge- 
winnen konnen fiir dasjenige, was des Anthroposophen Blick verfolgt 
iiber Welten hin, iiber planetarische Schicksale, iiber Menschenrassen 
und Menschenepochen hin, mogen die Menschen mit den kleinen 
materiellen Interessen des heutigen Tages auch dariiber spotteln: fiir 
denjenigen, der sich vorbereiten will in wiirdiger Weise fiir eine 
okkulte Entwickelung, ist dies die Vorbereitung, dieses Heraufheben 
des Blickes zu jenen Gipfelpunkten, wo die Interessen der Mensch- 
heit, der Erde, des ganzen planetarischen Systems ihm zu eigenen 
Interessen erwachsen. Denn wo die Interessen allmahlich gescharft, 
erweitert werden durch das Studium der Geisteswissenschaft, das 
dann zum Begreifen der okkulten Wahrheiten fiihrt, auch ohne ok- 
kulte Schulung, da ist die richtige Vorbereitung fiir einen okkulten 
Weg. Gewift, in unserer Zeit gibt es viele Menschen - diejenigen, die 
in den Reihen der Intellektuellen stehen, sind es oftmals gar nicht, 
diejenigen, die scheinbar in einem einfachen Leben an einem ein- 
fachen Orte stehen, sind es gerade oftmals -, gewift, es gibt viele 
Menschen, die heute, auf einfacher Stelle stehend, wie durch einen 
natiirlichen Instinkt diese Interessen fiir die Gesamtmenschheit haben: 



und weil dies so ist, deshalb ist die Anthroposophie etwas so Zeit- 
gemafies. 

Erst mufi man also dasjenige lernen, was wie eine gewaltige Er- 
schutterung der Seele am Ausgangspunkte okkulten Erlebens stehen 
mufi. Mit wunderbarer Wahrheit wird nun ein solcher Moment hin- 
gestellt an den Ausgangspunkt des Erlebens von Arjuna; nur dafi 
er nicht durch eine Schulung geht, sondern hineingestellt wird durch 
sein Schicksal. Hineingestellt wird er in den Kampf, ohne dafi er Not- 
wendigkeit, Zweck, Ziel dieses Kampfes erkennen kann. Er sieht nur, 
dafi Blutsverwandte gegen Blutsverwandte kampfen wollen, und es 
kann im Innersten erschiittert werden eine solche Seele, die wie 
Arjuna sich sagt: Bruder gegen Bruder kampf t. Ist es dann nicht 
klar, dafi alle Stammessitten schwanken, dafi dann auch der Stamm 
dahinsiechen mufi, dafi er vernichtet werden mufi, dafi die Morali- 
tat des Stammes dahinsinkt? Dann miissen die Gesetze wanken, die 
nach dem ewigen Schicksal die Menschen in die Kasten hineinstellen, 
dann miissen die Gesetze der Kasteneinteiltung wanken, dann wankt 
der Mensch, wankt der Stamm, dann wankt das Gesetz, dann wankt 
die ganze Welt, die ganze Bedeutung des Menschentums. - Das ist 
sein Empfinden, es ist so, wie wenn der Boden sich ihm unter den 
Fiifien hinwegziehen wollte, wie wenn ein Abgrund sich auftun 
wollte fur all sein Empfinden. Ein solcher Mensch wie Arjuna hat 
es mit seinem Gefuhle aufgenommen, was heute die Menschen nicht 
mehr wissen, was in alten Zeiten aber uralte Uberlieferung und Lehre 
war: dafi dasjenige, was sich fortpflanzt von Geschlecht zu Ge- 
schlecht, von Generation zu Generation in der Menschheit, gebunden 
ist an die Natur der Frau, wahrend das individuell Personliche, das- 
jenige, was den Einzelmenschen als Individualist herausreifit aus 
dem Zusammenhang des Blutes, der Generation, gebunden ist an die 
Natur des Mannes. Dasjenige, was den Menschen mehr hineinstellt in 
die Reihe der Generationen, was sich als gemeinsame Natur, als Art- 
natur des Menschen vererbt, das ist der Teil, den die Frau vererbt 
auf die Nachkommen. Dasjenige, was die Menschen zu einem Beson- 
deren, Individuellen gestaltet, was sie herausreifit aus der Gene- 
rationenreihe, das ist der Teil, den der Mann gibt. Mufi nicht in die 



Gesetzmafiigkeit der Frauennatur, so sagt sich Arjuna, Ubles hin- 
einkommen, wenn Blut gegen Blut kampfen mufi? 

Und weiter: Eine andere Empfindung, ein anderes Gefuhl, das 
aufgenommen hat Arjuna, das bei ihm zusammenhangt mit alle 
dem, was er als Heil der gesamten Menschheitsentwickelung empfin- 
det, es ist das Gefuhl: Die Ahnen, die Vater sind ehrwiirdig, und ihre 
Seelen wachen iiber den nachfolgenden Geschlechtern, und ein hoher, 
heiliger Dienst ist es, den Manen, den heiligen Seelen der Ahnen zu 
opfern, Opferfeuer darzubringen. - Was aber mufi Arjuna sehen? 
Statt daft Altare vor ihm stehen, auf denen die Opferfeuer brennen 
fur die Ahnen, fallen diejenigen sich gegenseitig an, die fur die ge- 
meinsamen Ahnen die Opferfeuer anziinden sollten. Kampfend fallen 
sie sich an. 

Wenn man verstehen will eine Seele, dann mufi man sich in die 
Gedanken dieser Seele vertiefen, dann mufi man noch mehr in die 
Empfindung dieser Seele sich hineinversetzen. Denn mit den Empfin- 
dungen hangt die Seele innig zusammen, innig zusammen mit dem, 
was ihr Leben ist. Und nun denke man den Kontrast, den unend- 
lichen Kontrast zwischen dem, was Arjunas Empfindung sein sollte, 
und dem, was rings herum als blutiger Bruderkampf sich aus- 
breiten sollte. Das heifit, das Schicksal riittelt an die Seele des Ar- 
juna. Ein Ereignis tiefster Erschiitterung findet statt, das fur diese 
Seele so ist, wie wenn sich ihr der Boden unter den Fiifien entzoge 
und sie in den schauerlichsten Abgrund hinunterblicken miifite. Solche 
Erschiitterung ist Kraft der Seele, ruft die ersten Krafte der Seele 
wach, solche Erschiitterung bringt die Seele zum Schauen desjenigen, 
was sonst wie durch einen Schleier verborgen ist: der okkulten Wirk- 
lichkeit. Das ist gleich das bedeutsame Spannungsmoment in der 
Bhagavad Gita, daft uns nicht nur in abstrakter Weise, schulmafiig, 
pedantisch gewissermafien ein Unterricht im Okkultismus entgegen- 
gebracht wird, sondern dafi in hochster Weise kunstlerisch uns dar- 
gestellt wird, wie aus dem Schicksal des Arjuna heraus sich ent- 
wickeln mul5, was nun entsteht. 

Und nun, nachdem es gerechtfertigt ist, dafi die tieferen okkulten 
Krafte in der Seele des Arjuna hervorkommen konnen, dafi inner- 



lich erschaut werden konnen diese Krafte, da tritt ein, was jetzt fiir 
jeden, der schauen kann, selbstverstandlich ist: sein Wagenlenker wird 
zum Instrument, durch das der Gott Krishna zu ihm spricht. Und 
nun merken wir in den vier ersten Gesangen drei Etappen, drei Stu- 
fen, jede folgende hoher als die vorhergehende, jede folgende etwas 
Neues. Gleich in den vier ersten Gesangen eine wunderbare kiinst- 
lerisch dramatische Steigerung, neben dem, dafi diese Steigerung einer 
tiefen okkulten Wahrheit entspricht. Was ist das erste? Das erste ist 
eine Lehre, die im Grunde genommen, so wie sie gegeben wird, man- 
chem abendlandischen Menschen sogar trivial vorkommen konnte. 
Das sei ohne weiteres zugegeben. Ich bemerke in Parenthese, dafi ich 
mit abendlandisch oder westlandisch - und gerade mit Riicksicht auf 
meine hiesigen lieben Freunde mochte ich dies sagen -, daft ich mit 
westlandisch alles verstehe, was westlich von Ural, Wolga, Kaspi- 
schem Meer sogar und Kleinasien liegt, also ganz Europa selbstver- 
standlich. Das Ostlandische liegt im wesentlichen in Asien driiben. 
Naturlich gehort Amerika zu dem Westlandischen. 

Da ist zunachst also eine merkwiirdige, gerade fiir manches philo- 
sophische Gemiit, man konnte sagen, triviale Lehre. Was sagt denn 
zunachst Krishna dem Arjuna wie ein Wort der Anfeuerung zum 
Kampf? Siehe hiniiber auf diejenigen, die durch euch getotet werden 
sollen, siehe auf diejenigen, die aus euren Reihen getotet werden sol- 
len, siehe auf diejenigen, die getotet werden sollen, und auf diejenigen, 
die leben bleiben sollen, berucksichtige das eine: Was stirbt oder was 
am Leben bleibt bei den Feinden und bei euch, das ist die aufiere 
physische Leiblichkeit. Der Geist ist ewig. Und wenn die Deinigen 
toten jene, die driiben in den anderen Reihen sind, dann toten sie ja 
nur den aufieren Leib, dann toten sie nicht den Geist, der ewig ist. 
Und diejenigen, die von euch getotet werden, sie werden nur dem 
Leibe nach getotet, der Geist aber geht von Verwandlung zu Ver- 
wandlung, von Inkarnation zu Inkarnation, er ist ewig. Das ewige, 
tiefste Wesen des Menschen beriihrt ihr gar nicht in diesem Kampf. 
Erhebe dich, Arjuna, zu dem Standpunkte des Geistes, und du wirst 
hinschauen konnen auf dasjenige, was nicht getotet werden kann, was 
am Leben bleibt. Du kannst dich deiner Pflicht opfern, du brauchst 



nicht zu schaudern, du brauchst nicht trostlos zu sein, da du das 
Wesentliche nicht totest, wenn du die Feinde totest. 

Zunachst ist dies in gewissem Sinne eine Trivialitat, nur ist es eine 
Trivialitat von ganz besonderer Art. Der Abendlander hat in vieler 
Beziehung ein recht kurzes Denken, ein recht kurzes Bewufttsein. Er 
bedenkt gar nicht, daft alles in Entwickelung ist. Davon zu sprechen, 
daft dasjenige, was ich eben jetzt als eine Unterweisung des Krishna 
ausgesprochen habe, davon zu sprechen, daft das trivial sei, das 
kommt etwa dem gleich, wie wenn jemand sagen wiirde: Ja, da ver- 
ehrt man den Pythagoras als einen so groften Geist, aber seinen Lehr- 
satz kennt ja jeder Schulbub und jedes Schulmadchen. - Das ware 
doch ein sehr torichtes Urteil, wenn man von dem Umstand, daft 
jeder Schulbub den Pythagoraischen Lehrsatz kennt, schlieften wiirde, 
daft Pythagoras eben kein grofier Mann gewesen sei, weil er den 
Pythagoraischen Lehrsatz gefunden hat. Da merkt man das Torichte 
nur; man merkt es aber nicht mehr, wenn man nicht empfindet, daft 
dasjenige, was heute alle westlandischen Philosophen plappern kon- 
nen als Krishnaweisheit: von der Ewigkeit des Geistes, von der 
Unsterblichkeit des Geistes, daft das in der Zeit, als es Krishna ver- 
kiindete, eine hohe Weisheit war. 

Solche Seelen wie Arjuna fuhlten zwar: Blutsverwandte diirfen 
sich nicht bekampfen, empfanden zwar noch das gemeinsame Blut in 
einer Mehrheit von Menschen, aber etwas vollig Neues, etwas, was 
ganz neu, epochal neu in seine Seele tonte, war der in abstrakten 
Worten, in Verstandesworten ausgesprochene Satz: Der Geist ist 
ewig - der Geist als dasjenige betrachtet, was gewohnlich abstrakt im 
Zentrum des Menschen gedacht wird -, der Geist ist ewig und geht 
durch Verwandlungen hindurch, schreitet von Inkarnation zu Inkar- 
nation. Im Konkreten glaubte jeder Mensch in der Umgebung des 
Arjuna an die Wiederverkorperung. In der Allgemeinheit, in der 
Abstraktheit, wie es Krishna lehrte, war es, besonders angesichts der 
Situation fur Arjuna, etwas vollig Neues. 

Das ist das eine, warum das, was eben ausgesprochen worden ist, 
eigentlich in einem ganz besonderen Sinne eine triviale Wahrheit ge- 
nannt werden muftte. Es gilt aber auch noch in einem anderen Sinne. 



Dasjenige, was wir heute, selbst wenn wir populare Wissenschaft 
treiben, als dem Menschen etwas ganz Natiirliches ansehen, unser 
Denken, unser abstraktes Denken, das war ganz und gar nicht immer 
bei dem Menschen etwas Selbstverstandliches und Natiirliches. Es ist 
gut, wenn man, um so etwas zu charakterisieren, gleich zu den radi- 
kalen Fallen seine Zuflucht nimmt. Ihnen alien wird es sonderbar 
vorkommen, wenn man folgendes sagt: Fur Sie alle ist es ein natiir- 
liches Faktum, zum Beispiel von einem Fisch zu sprechen. Bei primi- 
tiven Volkern ist das ganz und gar nicht ein natiirliches Faktum. 
Primitive Volker kennen wohl Forellen, Lachse, Stockfische, Heringe, 
aber «Fisch» kennen sie nicht. Sie haben gar nicht das Wort «Fisch», 
weil sie bis zu solcher Abstraktheit, bis zu solcher Allgemeinheit mit 
dem Denken gar nicht gehen. Birkenbaume, Kirschenbaume, Orangen- 
baume, einzelne Baume kennen sie, aber «Baum» kennen sie nicht. 
Dasjenige, was uns ganz natiirlich ist, das Denken in allgemeinen 
Begriffen, das ist heute noch bei primitiven Volkern gar nicht etwas 
Natiirliches. 

Wenn man sich dieses Faktum vor Augen fiihrt, dann mufi man 
sich klar sein, dafi auch dasjenige, was man im heutigen Sinne 
«Denken in allgemeinen Begriffen» nennt, daft dieses besondere Den- 
ken erst im Laufe der Entwickelung in die Menschheit eingetreten ist. 
Ja, fur denjenigen, der ein wenig dariiber nachdenkt, warum Logik 
erst im alten Griechenland entstanden ist, konnte es gar nicht beson- 
ders auffallig sein, wenn gesagt wird aus okkulter Erkenntnis heraus, 
dafi logisches Denken eigentlich iiberhaupt erst seit jener Zeit exi- 
stiert, die nach der urspriinglichen Abfassung der Bhagavad Gita ver- 
flossen ist. Auf logisches Denken, auf Denken in Abstraktionen weist 
gewissermafien als auf etwas Neues, was jetzt erst in die Menschheit 
eintreten soli, Krishna den Arjuna hin. Aber dieses Denken, das 
der Mensch so entwickelt, dieses Denken, das nimmt man zwar heute 
als etwas ganz Natiirliches, aber man hat die schiefesten, unnatiir- 
lichsten Ansichten iiber dieses Denken. Und gerade die westlan- 
dischen Philosophen haben iiber dieses Denken die allerschiefsten An- 
schauungen, denn man halt gewohnlich dieses Denken fur eine blofie 
Photographie der aufteren sinnlichen Wirklichkeit, man glaubt, die 



Begriffe, Ideen entstehen im Menschen, dieses ganze innere Denken 
iiberhaupt entstehe im Menschen von der physischen Auftenwelt her- 
ein. Ganze Bibliotheken von philosophischen Werken sind geschrie- 
ben worden in der abendlandischen Literatur, urn nachzuweisen, daft 
dieses Denken eigentlich nichts anderes sei als etwas, was durch die 
physische Auftenwelt angeregt entstanden sei. Wir erst leben in der 
Zeit, wo dieses Denken in der richtigen Weise gewiirdigt werden 
kann. 

Hier komme ich auf einen Punkt zu sprechen, der ganz und gar 
wichtig ist gerade fur diejenigen, die mit der eigenen Seele eine ok- 
kulte Entwickelung durchmachen wollen. Ich mochte wirklich alles 
versuchen, um gerade iiber dasjenige, was ich jetzt aussprechen will, 
Klarheit hervorzurufen. Gewift, mittelalterliche Alchimisten haben 
gesagt - und ich kann heute nicht auseinandersetzen, was sie eigent- 
lich damit gemeint haben -, sie haben gesagt, man konne aus alien 
Metallen Gold machen, Gold in so grofter Menge, wie man will, nur 
muE man zunachst unbedingt ein Winziges an Gold haben. Ohne daft 
man das hat, kann man kein Gold machen. Aber wenn man ein Win- 
zigstes an Gold hat, kann man beliebige Mengen Goldes machen. - So 
ist es namlich, wenn auch nicht mit dem Goldmachen, so ist es mit 
dem Hellsehen. Kein Mensch konnte eigentlich zu wirklichem Hell- 
sehen kommen, wenn er nicht zunachst ein Winziges an Hellsehen in 
der Seele hatte. Wenn es wahr ware, was ein allgemeiner Glaube ist, 
daft die Menschen, wie sie sind, nicht hellsichtig seien, dann konnten 
sie iiberhaupt nicht hellsichtig werden. Denn wie der Alchimist meint, 
daft man etwas Gold haben muft, um viele Mengen Goldes hervorzu- 
zaubern, so muft man unbedingt etwas hellsehend schon sein, damit 
man dieses Hellsehen immer weiter und weiter ins Unbegrenzte hin- 
ein ausbilden kann. 

Nun konnten Sie ja die Alternative aufstellen und sagen: Also 
glaubst du, daft wir schon alle hellsichtig sind, wenn auch nur ein 
Winziges, oder daft diejenigen unter uns, die nicht hellsichtig sind, es 
auch nie werden konnen? — Sehen Sie, darauf kommt es an, daft man 
versteht, daft der erste Fall der Alternative rich tig ist: Es gibt wirk- 
lich keinen unter Ihnen, der nicht — wenn er sich dessen auch nicht 



bewufit ist - diesen Ausgangspunkt hatte. Sie haben ihn alle. Keiner 
von Ihnen ist in der Not, weil Sie alle ein gewisses Quantum Hell- 
sehen haben. Und was ist dieses Quantum? Das ist dasjenige, was ge- 
wohnlich gar nicht als Hellsehen geschatzt wird. 

Verzeihen Sie einen etwas groben Vergleich: Wenn eine Perle am 
Wege liegt und ein Huhn findet sie, so schatzt das Huhn die Perle 
nicht besonders. Solche Huhner sind die modernen Menschen zumeist. 
Sie schatzen die Perle, die ganz offen daliegt, gar nicht, sie schatzen 
etwas ganz anderes, sie schatzen namlich ihre Vorstellungen. Nie- 
mand konnte abstrakt denken, wirkliche Gedanken und Ideen haben, 
wenn er nicht hellsichtig ware, denn in den gewohnlichen Gedanken 
und Ideen ist die Perle der Hellsichtigkeit von allem Anfange an. 
Diese Gedanken und Ideen entstehen genau durch denselben Prozefi 
der Seele, durch den die hochsten Krafte entstehen. Und es ist unge- 
heuer wichtig, dafi man zunachst verstehen lernt, dafi der Anfang der 
Hellsichtigkeit etwas ganz Alltagliches eigentlich ist: man mufi nur 
die iibersinnliche Natur der Begriffe und Ideen erfassen. Man mufi 
sich klar sein, dafi aus den iibersinnlichen Welten die Begriffe und 
Ideen zu uns kommen, dann erst sieht man recht. Wenn ich Ihnen 
erzahle von Geistern der hoheren Hierarchien, von den Seraphim, 
Cherubim, von den Thronen herunter bis zu den Archangeloi und 
Angeloi, so sind das Wesenheiten, die aus geistigen, hoheren Welten 
zu der Menschenseele sprechen miissen. Aus eben diesen Welten kom- 
men der Seele die Ideen und Begriffe, sie kommen geradezu in die 
Seele aus hoheren Welten herein und nicht aus der Sinnenwelt. 

Es wurde als ein grofies Wort eines grofien Aufklarers gehalten, 
das dieser gesagt hat im 18. Jahrhundert: Mensch, erkiihne dich, deiner 
Vernunft dich zu bedienen. - Heute mufi ein grofieres Wort in die 
Seelen klingen, das heifit: Mensch, erkiihne dich, deine Begriffe und 
Ideen als die Anfange deines Hellsehertums anzusprechen. - Das, was 
ich jetzt ausgesprochen habe, habe ich schon vor vielen Jahren ausge- 
sprochen, ausgesprochen in aller Offentlichkeit, namlich in m^inen 
Biichern «Wahrheit und Wissenschaft» und «Philosophie der Freijieit», 
wo ich gezeigt habe, dafi die menschlichen Ideen aus ubersinnlichem, 
geistigem Erkennen kommen. Man hat es dazumal nicht verstanden; 



das ist ja auch kein Wunder, denn diejenigen, die es hatten verstehen 
sollen, die gehorten, nun ja, halt zu den Huhnern. Wir miissen uns aber 
klar sein, dafi in dem Augenblick, wo Krishna vor dem Arjuna steht, 
er ihm sozusagen zum ersten Male in der ganzen Menschheitsentwik- 
kelung den Ausgangspunkt fur die Erkenntnis der hoheren Welten in 
der Durchdringung des abstrakten Urteilens gibt. Der Geist kann gese- 
hen werden ganz in der Oberflache der Verwandlungen innerhalb der 
aufieren Sinnenwelt. Die Leiber konnen sterben, der Geist, das Abstrak- 
te, das Wesentliche ist ewig. Ganz in der Oberflache der Erscheinun- 
gen kann das Geistige gesehen werden. Das ist es, was Krishna dem 
Arjuna als den Anfang eines neuen Hellsehertums des Menschen klar 
machen will. 

Fur den heutigen Menschen ist eines notwendig, wenn er zu einer 
innerlich erlebten Wahrheit kommen will. Wenn er wirklich einmal 
innerlich Wahrheit erleben will, dann mufi der Mensch einmal durch- 
gemacht haben das Gefiihl der Verganglichkeit aller aufteren Ver- 
wandlungen, dann mufi der Mensch die Stimmung der unendlichen 
Trauer, der unendlichen Tragik und das Frohlocken der Seligkeit zu- 
gleich erlebt haben, erlebt haben den Hauch, den Verganglichkeit 
aus den Dingen ausstromt. Er mull sein Interesse haben fesseln kon- 
nen an diesen Hauch des Werdens, des Entstehens und der Ver- 
ganglichkeit der Sinnenwelt. Dann mufi der Mensch, wenn er hoch- 
sten Schmerz und hochste Seligkeit an der Aufienwelt hat empfin- 
den konnen, einmal so recht allein gewesen sein, allein gewesen sein 
nur mit seinen Begriffen und Ideen; dann mufi er einmal empfunden 
haben: Ja, in diesen Begriffen und Ideen, da fassest du doch das 
Weltengeheimnis, das Weltgeschehen an einem Zipfel - derselbe Aus- 
druck, den ich einstmals gebraucht habe in meiner « Philosophic der 
Freiheit». - Aber erleben mufi man dieses, nicht blofi verstandes- 
mafiig begreifen, und wenn man es erleben will, erlebt man es in vol- 
ligster Einsamkeit. 

Und man hat dann noch ein Nebengefuhl. Auf der einen Seite er- 
lebt man die Grandiositat der Ideenwelt, die sich ausspannt iiber das 
All, auf der anderen Seite erlebt man mit der tiefsten Bitternis, dafi 
man sich trennen mufi von Raum und Zeit, wenn man mit seinen 



Begriffen und Ideen zusammensein will. Einsamkeit! Man erlebt die 
frostige Kalte. Und weiter enthiillt sich einem, daft die Ideenwelt sich 
jetzt wie in einem Punkte zusammengezogen hat, wie in einem Punkte 
dieser Einsamkeit. Man erlebt: Jetzt bist du mit ihr allein. - Man 
mufi das erleben konnen. Man erlebt dann das Irrewerden an dieser 
Ideenwelt, ein Erlebnis, das einen tief aufwiihlt in der Seele. Dann 
erlebt man es, dafi man sich sagt: Vielleicht bist du das alles doch 
nur selber, vielleicht ist an diesen Gesetzen nur wahr, dafi es lebt in 
dem Punkte deiner eigenen Einsamkeit. - Dann erlebt man, ins Un- 
endliche vergrofiert, alle Zweifel am Sein. 

Wenn man dieses Erlebnis in seiner Ideenwelt hat, wenn sich aller 
Zweifel am Sein schmerzlich und bitter abgeladen hat auf die Seele, 
dann erst ist man im Grunde reif dazu, zu verstehen, wie es doch 
nicht die unendlichen Raume und die unendlichen Zeiten der phy- 
sischen Welt sind, die einem die Ideen gegeben haben. Jetzt erst, nach 
dem bitteren Zweifel, offnet man sich den Regionen des Spirituellen 
und weifi, dafi der Zweifel berechtigt war, und wie er berechtigt war. 
Derm er mufite berechtigt sein, weil man geglaubt hat, daft die Ideen 
aus den Zeiten und Raumen in die Seele gekommen seien. Aber was 
empfindet man jetzt? Als was empfindet man die Ideenwelt, nach- 
dem man sie erlebt hat aus den spirituellen Welten heraus? Jetzt fiihlt 
man sich zum ersten Male inspiriert, jetzt beginnt man, wahrend man 
friiher wie einen Abgrund die unendliche Ode um sich ausgedehnt 
empfunden hat, jetzt beginnt man sich zu fiihlen wie auf einem Fel- 
sen stehend, der aus dem Abgrunde emporwachst, und man fiihlt sich 
so, dafi man weifi: Jetzt bist du in Verbindung mit den geistigen 
Welten, diese und nicht die Sinnenwelt haben dich mit der Ideen- 
welt beschenkt. - Das ist eine nachste Etappe fur die sich entwik- 
kelnde Seele. Das ist diejenige Etappe, wo es beim Menschen beginnt 
mit dem, was heute schon eine triviale Wahrheit geworden ist, recht 
ernst zu werden. Dafi man dieses Fiihlen im Herzen tragt, das ist die 
Vorbereitung dazu, dafi man uberhaupt im richtigen Sinne empfin- 
det, was jetzt, nach der gewaltigen, grofien Erschutterung der Seele 
des Arjuna, von Krishna dem Arjuna als erste Wahrheit gegeben 
wird: die Wahrheit von dem ewigen Geiste, der in den Verwandlun- 



gen lebt. In Begriffen und Ideen wird zum abstrakten Verstande ge- 
sprochen, Krishna spricht zum Herzen des Arjuna, und was ganz 
trivial fur den Verstand sein mag, ist etwas unendlich Tiefes, Erha- 
benes fur das Herz. 

Wir sehen, wie sich die erste Etappe sogleich als etwas ergibt, 
was mit Notwendigkeit hervorgeht aus der tiefen Lebenserschiitte- 
rung, die wir am Ausgangspunkte der Bhagavad Gita sehen. Und nun 
die nachste Etappe. Man spricht sehr leicht von demjenigen, was man 
oftmals dem Okkultismus gegeniiber als Dogma bezeichnet, als etwas, 
was man auf Treu und Glauben hinnimmt und wie ein Evangelium 
verkiindet. Um mich zu erklaren, mochte ich Sie darauf aufmerksam 
machen, dafi es unendlich billig ware, wenn jemand auftreten wiirde 
und sagen wiirde: Da hat einer eine «Geheimwissenschaft» veroffent- 
licht und spricht darin von einer Saturn-, Sonnen- und Mondent- 
wickelung. Das kann man nicht kontrollieren, das kann man nur als 
Dogma hinnehmen. - Ich wiirde es begreifen, wenn so etwas gesagt 
wiirde, denn begreiflich ist so etwas aus der Oberflachlichkeit unserer 
Zeit heraus; denn oberflachlich ist unsere Zeit doch. Ja, es ist unter 
gewissen Voraussetzungen sogar wahr, aber nur unter der Voraus- 
setzung, dafi man aus dem Buche alle Seiten wegreifit, die dem Kapi- 
tel iiber die Saturnentwickelung zum Beispiel vorangehen. In dem 
Augenblick ist dieses Kapitel Dogma, wenn jemand mit diesem 
Kapitel das Buch beginnen wiirde. Wiirde direkt in diesem Buch 
bei der Saturnentwickelung begonnen, so ware der Schreiber ein 
Dogmatiker. Wenn er aber voraussetzt die andern Kapitel, so ist er 
ganz und gar kein Dogmatiker, denn er zeigt, welchen Weg diese 
Seele durchzumachen hat, um zu solchen Anschauungen zu kom- 
men. Darauf kommt es an. Es kommt darauf an, dafi gezeigt wird, 
wie jede einzelne Seele, wenn sie sich in den Tiefen erfafit, zu sol- 
chen Anschauungen kommen mulL Dadurch hort aller Dogma- 
tismus auf. 

Man kann es daher als naturlich empfinden, dafi Krishna dem 
Arjuna gegeniiber, indem er ihn hineinfiihren will in die okkulte 
Welt und nachdem er ihm die Ideenwelt klar gemacht hat, ihm jetzt 
die nachste Stufe zeigt, zeigt, wie jede Seele, wenn sie den richtigen 



Ausgangspunkt findet, in die okkulten Welten kommen kann. Was 
mufi also Krishna tun? Dazu mufi Krishna alien Dogmatismus ableh- 
nen. Und radikal lehnt er alien Dogmatismus ab. Ein hartes Wort 
finden wir sogleich bei dieser nachsten Stufe. Dasjenige, was den hoch- 
sten Menschen jener Zeiten durch Jahrhunderte hindurch heilig war, 
der Inhalt der Veden, wird radikal abgelehnt: Halte dich nicht an die 
Veden, halte dich nicht an das Vedawort, halte dich an Yoga. - Das 
heifit, halte dich an das Innere deiner eigenen Seele. Fassen wir ins 
Auge, was da gesagt werden soli. 

Die Veden enthalten im Sinne des Krishna nicht Unwahrheit, aber 
Krishna will nicht, dafi Arjuna dasjenige, was in den Veden gege- 
ben ist, dogmatisch hinnimmt wie die Vedenschuler, sondern Krishna 
will ihn heranerziehen, dafi er von dem ursprunglichsten Entwicke- 
lungspunkt der Menschenseele ausgehe. Da mufi alle dogmatische 
Weisheit beiseite gesetzt werden. Dann konnte Krishna etwa spre- 
chen, wie beiseite - wir konnen uns ja vorstellen, dafi Krishna zu sich 
beiseite spricht -, dann konnte er sich sagen: Und wenn Arjuna auch 
zuletzt zu all demselben kommen soil, was in den Veden steht, ich 
mufi ihn ablenken von den Veden, denn er soli den eigenen Weg aus 
den Urspriingen seiner Seele machen. - Von Krishna werden die 
Veden abgelehnt, gleichgultig, ob sie Wahrheit oder Unwahrheit ent- 
halten. Denn vom Urspriinglichen der Seele soil Arjuna den Weg 
nehmen, er soil aus sich, aus einer inneren Eigenheit den Krishna 
kennenlernen. Fur Arjuna mufi vorausgesetzt werden, was voraus- 
gesetzt werden kann, wenn man in die konkreten Wahrheiten der 
oberen iibersinnlichen Welten wirklich eintreten kann. So dafi also, 
nachdem Krishna den Arjuna aufmerksam gemacht hat auf etwas, 
was von diesem Zeitraum der Verkiindung der Bhagavad Gita an, 
allgemein menschlich ist, nachdem er ihn darauf gefuhrt hat, er ihn 
auch dahin fuhren mufi, zu erkennen, was er bekommen soli durch 
den Yoga. Denn Yoga mufi Arjuna erst durchmachen. Das ist die 
Steigerung zu einer nachsten Etappe hinauf. 

Wir sehen, wie - als zweite Stufe - mit wichtiger dramatischer 
Steigerung zu dem Allerindividuellsten hin die Bhagavad Gita weiter- 
schreitet in diesen vier ersten Gesangen. Nun schildert Krishna dem 



Arjuna den Yogaweg - dariiber werden wir morgen noch genauer 
zu sprechen haben er schildert diesen Weg, den Arjuna durchzu- 
machen hat, urn zu der nachsten Stufe heraufzukommen, von dem 
alltaglichen Hellsehen der Begriffe und Ideen zu dem, was nur durch 
Yoga erlangt werden kann. Die Begriffe und Ideen brauchen nur in 
das richtige Licht gestellt zu werden, zu Yoga muft er gefuhrt wer- 
den. Das ist die zweite Stufe. 

Die dritte Stufe: wiederum eine dramatische Steigerung, wieder- 
um ein Aussprechen einer tiefen okkulten Wahrheit. Worin besteht 
diese dritte Stufe? 

Nehmen wir an, jemand gehe wirklich einmal den Yogaweg. 
Wenn er das tut, dann kommt er dazu - diese Dinge werden wir 
noch genauer darstellen -, von seinem gewohnlichen Bewufttsein zu 
einer hoheren Bewufitseinsstufe hinaufzusteigen, zu derjenigen Be- 
wufttseinsstufe, die nicht blofi das Ich umfafit, welches zwischen Ge- 
burt und Tod liegt, sondern jenes Ich umfaftt, das von Inkarnation 
zu Inkarnation geht. In einem erweiterten Ich erkennt sich die 
Seele, in ein erweitertes Ich, in ein erweitertes Bewufttsein, wachst 
die Seele hinein. Die Seele macht einen Prozefi durch, der im Grunde 
auch alltaglich ist, aber der in der Alltaglichkeit eben nicht voll 
erlebt wird. Der Mensch schlaft ja an jedem Abend ein. Dann er- 
stirbt um ihn herum die Sinnenwelt, er wird fur diese Sinnenwelt 
bewufttlos. Es ist nun eine Moglichkeit fur die Seele, die Sinnen- 
welt wie beim Einschlafen verschwinden zu lassen, aber um in ho- 
heren Welten wie in einer Wirklichkeit zu leben. Da ersteigt der 
Mensch eine hohe Bewufitseinsstufe. Wenn der Mensch allmahlich 
— und wir werden eben von dem Yoga und auch von modernen 
Ubungen zu sprechen haben — , wenn der Mensch dazu gelangt, 
nicht mehr mit seinem Bewufttsein in sich zu leben, zu fiihlen und 
zu wissen, sondern mit der ganzen Erde zu leben, zu fiihlen und 
zu wissen, dann wachst er auf zu einer hoheren Bewufitseinsstufe, 
wenn die gewohnlichen Sinnesdinge fur ihn verschwinden wie 
im Schlaf. Dazu aber ist notwendig, daft der Mensch sich zu iden- 
tifizieren vermag mit seiner Planetenseele, mit der Erdenseele. 
Wir werden sehen, daft er das kann. Wir wissen, daft der 



Mensch nicht nur einschlaft und aufwacht, sondern auf der anderen 
Seite erlebt auch noch andere Rhythmen der Erde: Winter, Sommer. 
Wenn der Mensch den Yogaweg geht oder moderne okkulte 
Ubungen ausfuhrt, dann kann er sich erheben iiber das gewohnliche 
Bewufitsein, das die Zyklen Wachen und Schlafen, Winter und Som- 
mer erlebt, dann kann er sich erheben, indem er lernt, sich selber von 
aufien anzuschauen. Dann wird der Mensch gewahr, daft er auf sich 
zuriickschauen kann so, wie er sonst auf die Dinge nach aufien 
schaut. Jetzt betrachtet er auch die Dinge, die Zyklen im aufieren 
Leben. Dann sieht er abwechselnde Zustande. Er sieht, wie sein Leib, 
solange er aufierhalb seiner selbst ist, eine Gestalt annimmt, welche 
gleicht der Erde mit ihrer Vegetation im Sommer. Was die materielle 
physische Wissenschaft als Nerven konstatiert, beginnt der Mensch 
dann wahrzunehmen wie ein Aufsprossen von etwas Pflanzlichem 
beim Einschlafen, und wenn er wieder in das alltagliche Bewufitsein 
sich zuriickversetzt, dann fiihlt er, wie dieses Pflanzliche wiederum 
zusammenschrumpft und das Instrument des Denkens, Fiihlens und 
Wollens wird im tagwachen Bewufksein des Menschen. Er fiihlt sein 
Herausgehen und Wiederhineingehen in den Leib analog dem Wech- 
sel von Winter und Sommer auf der Erde, und zwar fiihlt er ein 
Sommerliches beim Einschlafen, ein Winterliches beim Aufwachen. 
Nicht etwa ist das Umgekehrte der Fall, wie man nach aufieren, ober- 
flachlichen Begriffen leicht denken konnte. Er lernt aber von diesem 
Augenblicke an verstehen, was der Erdgeist ist, dafi dieser im Sommer 
schlaft und im Winter wacht, und nicht umgekehrt. 

Das lernt der Mensch kennen, er lernt kennen das grofie Erlebnis, 
sich zu identifizieren mit dem Erdgeist. Er sagt sich von diesem Au- 
genblicke an: Ich lebe nicht nur in meiner Haut, ich lebe, wie die 
Zelle in meinem Organismus, so ich im Organismus der Erde. Die 
Erde schlaft im Sommer und wacht im Winter, wie ich schlafe und 
wache im Tageswechsel. Und wie die Zelle zu meinem Bewufitsein 
steht, so stehe ich zum Bewufksein der Erde. 

Der Yogaweg, namentlich im modernen Sinne, fiihrt zu dieser 
Erweiterung des Bewufitseins, fiihrt zu der Identifizierung unseres 
eigenen Wesens mit einem umfassenderen Wesen. Wir fiihlen uns 



dann so mit der ganzen Erde verwoben. Aber indem wir das tun, fuh- 
len wir uns nicht mehr als Menschen an eine bestimmte Zeit und an 
einen bestimmten Ort gefesselt, sondern wir fuhlen unser Menschen- 
tum, wie es sich entwickelt hat vom Erdenursprung bis zum Erden- 
ende. Wir fuhlen die ganze unendliche Reihe unserer Entwickelungen 
durch die Erdenevolution hindurch. So schreitet Yoga weiter zu dem 
Sich-eins-Fiihlen mit dem, was von Verkorperung zu Verkorperung, 
von Inkarnation zu Inkarnation in der Erdenentwickelung geht. Das 
mufi die nachste, die dritte Stufe sein. Das ist es auch, was zu der 
schonen, kunstlerischen Komposition der Bhagavad Gita fiihrt, dafi 
dieser erhabene Sang in seiner inneren kunstlerischen, sich steigernden 
Komposition okkulte tiefe Wahrheiten spiegelt: erstens Unterweisung 
in den gewohnlichen, dazumal alltaglichen Begriffen, zweitens Anlei- 
tung zum Yogaweg, drittens die Beschreibung der wunderbaren Aus- 
breitung des Horizontes iiber die ganze Erde hin, da wo Krishna vor 
Arjuna die Vorstellung entwickelt: Alles, was in deiner Seele lebt, 
hat oftmals gelebt, du weifk es nur nicht. Aber ich habe in mir dies 
Bewufitsein, wenn ich zuriickschaue in die Verwandlungen, die ich 
durchlebte, und ich will dich herauffuhren, damit du lernst dich fuh- 
len, wie ich mich fiihle. - Ein neues dramatisches Moment! Ebenso 
schon, wie auf der anderen Seite tief okkult wahr. Die Entwickelung 
der Menschheit vom Alltagsbewufksein heraus, von der Perle am 
Wege, die nur erst bekannt sein mull, von der in der jeweiligen Zeit 
alltaglichen Gedanken- und Begriffswelt, bis herauf zur Uberschau 
dessen, was in Wahrheit in uns ist und von Erdeninkarnation zu 
Erdeninkarnation lebt. 



DRITTER VORTRAG 



Helsingfors, 30. Mai 1913 

Es kam mir im vorigen Vortrage darauf an, zu zeigen, wie das ge- 
genwartige, mehr ins Abstrakte gehende menschliche Denken nicht 
eigentlich eine Gabe der au$eren physischen Welt ist, sondern wie es 
eine Gabe ist der spirituellen Welt, wie im Grunde genommen dieses 
abstrakte menschliche Denken in die menschliche Seele genau auf 
dieselbe Weise hereinkommt wie die Offenbarungen der Wesenheiten 
hoherer Hierarchien. Das Wesentliche ist also dieses, dafi wir wirk- 
lich im alltaglichen, im gewohnlichen Leben etwas in uns tragen, was 
ganz die Natur der hellseherischen Erkenntnis schon hat. 

Wir tragen aber nun auch als Menschen etwas anderes noch in 
uns, das im Grunde genommen noch viel mehr die Natur hell- 
seherischer Erkenntnis hat, nur in einer, man mochte sagen, noch ver- 
steckteren Weise. Das ist jenes Bewufitsein des Menschen, welches 
auftritt zwischen dem gewohnlichen alltaglichen Wachzustand und 
dem Schlafzustand: es ist das Traumbewufksein. Man kann nicht gut 
kennenlernen, in wirklich praktischer Weise, den Aufstieg der mensch- 
lichen Seele in die hoheren Welten, wenn man nicht Aufklarung sich 
zu verschaffen versucht liber jenes merkwurdige Leben der mensch- 
lichen Seele in dem Dammerzustande des Traumens. Was ist denn 
eigentlich dieser Traum? Betrachten wir ihn zunachst einmal so, wie 
er uns im gewohnlichen Leben entgegentritt. 

Der Mensch hat um sich herum oder auch vor sich Bilder, gewis- 
sermafien fluchtigere, nicht mit ebenso festen Konturen auftretende 
Bilder, als es die Wahrnehmungen des gewohnlichen alltaglichen 
Lebens sind. Es huschen gleichsam vor der Seele vorbei die Traum- 
vorstellungen, und wenn man dann eintritt in eine, man mochte 
sagen, niichterne Untersuchung dieser Traumvorstellungen, dann kann 
einem auffallen, dafi doch in den meisten Fallen diese Traumvor- 
stellungen in irgendeiner Weise zusammenhangen mit dem aufieren 
Leben, wie wir es verbringen auf dem physischen Plane. Gewifi, es 
gibt Menschen, die leichten Herzens in den Traumen gleich etwas 



Hohes, etwas Wunderbares, ja, Offenbarungen von hoheren Welten 
sehen wollen. Es gibt Menschen, welche leichten Herzens glauben, 
wenn dieser oder jener Traum auftritt, er gabe ihnen etwas, was sie 
im gewohnlichen Leben noch nicht erfahren hatten, er rufe in die 
Seele etwas herein, was gegeniiber diesem gewohnlichen Leben ein 
Neues, ein nie Dagewesenes sei. In vielen Fallen, ja vielleicht in den 
weitaus meisten Fallen wird man hierin sich tauschen, wenn man 
einen solchen Traum so auffafk; man wird einfach sozusagen aus 
Fliichtigkeit nicht bemerken, wie in das Traumgewebe und -gewoge 
doch irgendwelche Erlebnisse hineinragen, die wir vor mehr oder 
weniger kurzer Zeit, oder sogar vor vielen Jahren, aufierlich auf dem 
physischen Plan erlebt haben. Aus diesem Grunde hat es audi das 
materialistische Erkennen unserer Zeit so leicht, die Offenbarungen 
der Traume als etwas Besonderes einfach zuriickzuweisen, und viel- 
mehr darauf hinzuweisen, wie diese Traume denn doch nichts anderes 
sind als Nachbilder des aufierlichen, im physischen Leben Erfahre- 
nen. Wenn man die materialistische Traumwissenschaft der Gegen- 
wart kennt, so weifi man ja, dafi diese materialistische Traumwissen- 
schaft immer sich bemuht, gerade zu zeigen, wie der Traum eigentlich 
nichts anderes gibt als dasjenige, was die Menschengehirne in sich 
tragen an Nachbildern aus der aulteren physischen Welt. 

Man mufi gestehen, dafi diese aufiere materialistische Traumwis- 
senschaft auf diesem Gebiete wirklich es recht leicht hat, zuriickzu- 
weisen jede hohere Bedeutung des Traumlebens. Man kann ja so leicht 
nachweisen, dafi die Menschen die hoheren Offenbarungen, die sie im 
Traume zu haben glauben, in Bildern sehen in einem gewissen Zeit- 
alter, und wie sie in einem anderen Zeitalter diese Bilder nicht hatten 
sehen konnen. So zum Beispiel traumen die Menschen heute ofters in 
Bildern, die hergenommen sind von Erfindungen und Entdeckungen, 
die doch erst im 19. Jahrhundert gemacht worden sind. Das kann 
man ja also sehr leicht nachweisen, dafi aus dem aufieren Leben 
sich Bilder einschleichen in das Traumgewebe und -gewoge. Der- 
jenige, der sich aufklaren will iiber die Traumerlebnisse, so daft diese 
Aufklarung ihm etwas geben kann zum Eindringen in die okkulten 
Welten, der mufi gerade auf diesem Gebiete die allergrofke Sorgfalt 



verwenden. Er mufi sich daran gewohnen, sorgfaltig alien verborge- 
nen Wegen nachzugehen, und es wird sich ihm zeigen, wie der Traum 
in den meisten Fallen nichts anderes gibt als das, was in der aufieren 
Welt erfahren worden ist. Aber gerade derjenige, der sorgfaltiger und 
immer sorgfaltiger wird in der Durchforschung seines Traumlebens - 
und das sollte im Grunde jeder angehende Okkultist — , der wird den- 
noch nach und nach bemerken, dafi aus dem Gewebe des Traumes 
ihm Dinge hervorquellen, von denen er ganz und gar nicht in seinem 
bisherigen Leben, in dem Leben dieser Inkarnation aufierlich hat er- 
fahren konnen. Und wer solche Anweisungen befolgt, wie sie gegeben 
sind in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der hoheren 
Welten?», der wird bemerken, wie sich nach und nach sein Traum- 
leben wandelt, wie die Traume in der Tat einen anderen Charakter 
annehmen. Er wird als eine der ersten Erfahrungen die folgende 
machen konnen. 

Er wird vielleicht einmal lange, lange nachgesonnen haben iiber 
irgend etwas, was ihm ratselhaft erschienen ist, und wird vielleicht 
zu dem Schlusse gekommen sein: Ja, so wie du jetzt bist, reicht deine 
Intelligenz doch nicht aus, dieses Ratsel dir aus der eigenen Seele 
zu losen, und auch dasjenige, was du bisher von aufien gelernt hast, 
reicht nicht dazu aus. Dann wird dieser Mensch vielleicht - das wird 
der haufigere Fall sein - nicht das Bewufitsein haben: Du traumst, 
und im Traum lost sich dir dieses Ratsel auf. - Dies Bewufitsein 
wird er nicht gleich haben. Aber ein hoheres Bewufitsein wird er 
auf verhaltnismafiig friiher Stufe haben konnen. Er wird gleich- 
sam sich fiihlen wie aufwachend aus einem Traum, wie sich erin- 
nernd an einen Traum. Sein Bewufitsein wird sich so gestalten, dafi 
er sich sagt oder doch sagen konnte: Ja, jetzt traume ich nicht 
dasjenige, um das es sich handelt. Ich war mir auch irgendeines 
Traumes, den ich etwa friiher gehabt hatte, nicht bewufit. Aber jetzt 
taucht es wie eine Erinnerung auf, dafi so etwas wie ein Wesen an 
mich herangetreten ist, das mir dieses Ratsel gelost hat, indem es mir 
die Losung gleichsam gegeben oder zugesprochen hat. - Solch eine 
Tatsache wird von demjenigen, der sich daran gewohnt, sein Be- 
wufitsein allmahlich durch die genannten Anweisungen zu erweitern, 



verhaltnismaftig leicht erfahren werden. Man wird wissen, sich er- 
innernd an wie im Traum Durchlebtes, daft man damals es nicht 
wuftte, daft man es erlebte. Wie aus dunklen Untergriinden der 
eigenen Seele heraufleuchtend, wird so etwas erscheinen, dem gegen- 
iiber man sich sagt: Als du selbst mit deiner Gescheitheit, mit deiner 
Intelligenz nicht dabei warst, als du deine Seele gleichsam davor 
hutetest, durch deine Intelligenz beraten zu sein, als du deine Seele 
vor deiner eigenen Intelligenz hutetest, da konnte deine Seele mehr, 
da konnte sie in Zusammenhang kommen mit der Ratsellosung, der 
gegemiber du mit deiner Intelligenz ohnmachtig bist. - Gewift wird 
es den materialistischen Gelehrten auch oftmals leicht sein, eine mate- 
rialistische Erklarung fur eine solche Erfahrung zu finden, aber der, 
welcher diese Erfahrung selber macht, weift in der Tat, daft dasjenige, 
was ihm da entgegentritt, was dann wie ein erinnertes Traumerlebnis 
sich entpuppt, ganz anderes enthullt als bloft eine Reminiszenz des 
gewohnlichen Lebens. Vor alien Dingen ist die ganze Stimmung der 
Seele, die man solchen Erlebnissen gegenuber hat, eine solche, daft 
man sich sagt: Ja, diese Seelenstimmung hast du eigentlich wirklich 
noch gar nicht gehabt. - Es ist die Stimmung einer wunderbaren 
Seligkeit dariiber, daft man in den Tiefen der Seele mehr tragt als im 
gewohnlichen Tagesbewufttsein. Aber es kann noch deutlicher, noch 
viel deutlicher sein, dieses Erkennen des Seelenlebens, dieses Herauf- 
drangen wie eine Erinnerung an etwas, was man nicht auffassen 
konnte, als es sich zugetragen hat in der Seele. Es kann viel deutlicher 
etwas heraufragen in das bewuftte Erkennen des Seelenlebens. Das 
geschieht im folgenden Falle. 

Wenn der Mensch mit Energie und Ausdauer, vielleicht oftmals 
durch recht lange Zeiten hindurch, vielleicht durch Jahrzehnte hin- 
durch, fortsetzt solche Ubungen, wie sie gegeben sind in meinem 
Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der hoheren Welten?», dann 
bekommt er in ganz ahnlicher Weise, wie geschildert worden ist, das 
Herauftauchen eines Seelenerlebnisses in das Bewufitsein. Dieses kann 
zum Beispiel das folgende sein: Nehmen wir an, in dieses Seelen- 
erlebnis sei hineingemischt die Erinnerung an ein gewohnliches Er- 
lebnis des aufteren Tageslebens, das uns vor Jahren getroffen hat, 



vielleicht ein recht unangenehmes, fatales Erlebnis, das wir einen 
schweren Schicksalsschlag nennen, von dem wir immer wissen, dafi 
wir nur mir Bitternis an ihn denken konnten die ganze Zeit hin- 
durch. Gegeniiber einem solchen Erlebnis kann man wirklich ein 
deutliches Bewufitsein haben, wie bitter man es bisher erlebt hat, wie 
man immer ein bitteres Gefiihl gehabt hat, wenn es in der Erinnerung 
aufgetaucht ist. Jetzt nun taucht wiederum etwas wie die Erinnerung 
an einen Traum auf, aber an einen sehr merkwurdigen Traum, der 
uns sagt: In deiner Seele leben Gefiihle, welche dir mit aller Macht 
als etwas aufierordentlich Willkommenes dieses bittere Erlebnis her- 
angezogen haben; es lebt in deiner Seele etwas, das mit einer Art 
Wonne empfunden hat, alle Verhaltnisse so herbeizufuhren, dafi dich 
dieses Schicksal treffen konnte. - Und jetzt, wenn man eine solche 
Erinnerung hat, dann weifi man auch: In dem gewohnlichen Be- 
wufitsein, das man in sich tragt zur Ordnung der aufieren Angelegen- 
heiten, gab es keinen Moment, in dem du nicht schmerzlich und bitter 
diesen Schicksalsschlag empfunden hast. Keinen Moment gab es in 
deiner jetzigen Inkarnation, da du das nicht schmerzlich und bitter 
empfunden hast. Aber in dir ist etwas, das ganz anders sich verhalt 
zu diesem Schicksalsschlage, etwas, das mit aller Gewalt die Verhalt- 
nisse herbeizufuhren suchte, die dir diesen bitteren Schicksalsschlag 
brachten. Das hast du damals nicht gewufit, dafi in dir etwas ist, was 
sich zu diesem Schicksalsschlage wie mit magnetischer Kraft ange- 
zogen fuhlte, das hast du nicht gewufit. - Jetzt aber merkt man, dafi 
hinter dem alltaglichen Bewufitsein eine andere, tiefere Schicht des 
Seelenlebens weisheitsvoll waltet. Wer eine solche Erfahrung macht - 
und wer die Ubungen, wie sie in meinem Buche «Wie erlangt man 
Erkenntnisse der hoheren Welten?» gegeben sind, energisch befolgt, 
kann wirklich ein solches Erlebnis haben -, der weifi von da ab: Ja, 
du lebst ein Seelenleben, welches sich zur aufieren Welt in einer ge- 
wissen Weise verhalt, welches Sympathien und Antipathien hat fur 
dasjenige, was als Schicksal dir vor Augen steht, und mit diesem 
Bewufitsein fiihltest du damals dem Schicksalsschlage gegeniiber. Du 
empfandest ihn als bitter, antipathisch. Du wufitest aber nicht, dafi 
in dir ein weiteres Seelenleben war, welches mit allerhochster Sym- 



pathie dazumal sich hindrangte dazu, das zu erfahren, das zu erle- 
ben, was dein gewohnliches Alltagsbewufttsein so unsympathisch 
empfindet. 

Wenn man ein solches Erlebnis hat, dann mag jeder materialisti- 
sche Forscher kommen und mag davon sprechen, dafi solche Erleb- 
nisse nur Reminiszenzen des Alltagslebens seien; wir wissen, wie sich 
solche blofie Reminiszenzen unterscheiden von demjenigen, was man 
da erlebt. Denn in diese Reminiszenzen mufite sich doch die Bitterkeit 
hineinmischen, mit der man immer an dieses gedacht hat. Das aber, 
was man so erlebt, spielt sich ganz anders ab, nimmt sich ganz anders 
aus als jede Reminiszenz. Denn man ist in seinem tiefsten Inneren ein 
ganz anderer Mensch, als man ahnt. Das tritt einem vor die Seele. 
Und es tritt einem vor die Seele wahrhaftig so, dafi man weifi: Man 
hat da Offenbarungen aus Regionen bekommen, in die unser Alltags- 
bewulksein nicht hineinkommen kann. 

Wenn man solch eine Erfahrung hat, dann erweitert sich die 
ganze Vorstellung, die man von dem Seelenleben hat, dann weifi man 
aus Erfahrung, dafi dieses Seelenleben allerdings noch etwas ganz 
anderes ist als dasjenige, was umfafit wird von der Geburt an bis zum 
Tode. Wenn man nicht untertaucht in die charakterisierten tieferen 
Seelenregionen, so bekommt man fur sein gewohnliches Bewufttsein 
keine Ahnung davon, dafi man unter der Schwelle des Bewufitseins 
noch ein ganz anderer Mensch ist, als man im Alltagsleben meint. Und 
wenn dann ein bedeutsames anderes Fiihlen und Empfinden gegen- 
iiber dem Leben in der Seele entsteht, dann erweitert sich fur dieses 
Empfinden und Erleben der Kreis dessen, was wir Welt nennen, um 
eine neue Region. Dann treten wir in der Tat in eine neue Region des 
Erlebens ein. Eine ganz andere, neue Region tut sich vor uns auf, und 
wir wissen dann, warum wir im gewohnlichen Leben in diese Region 
nur, man mochte sagen, unter gewissen Voraussetzungen eintreten 
konnen. 

Ich habe im Grunde genommen, indem ich versuchte, Ihnen gleich- 
sam die okkulte Entwickelung des Traumlebens zu schildern, zwei 
ganz verschiedene Dinge jetzt schon hingestellt. Auf der einen Seite 
das alltagliche Traumleben, das fur die weitaus meisten Menschen 



immer wieder eintritt auf der Grenze des Wachens und Schlafens. 
Aufmerksam habe ich darauf gemacht, dafi dieses alltagliche Traum- 
leben sich nahrt von den Nachbildern des alltaglichen Lebens. Aber 
ich habe auf der anderen Seite Ihnen gezeigt, daft durch eine ahn- 
liche Art des inneren Erlebens, wie es sich vollzieht bei den gewohnli- 
chen Traumbildern, nach bestimmten Voraussetzungen, durch eine 
Schulung, eine ganz neue Welt vor uns auftauchen kann, von der 
wir bisher, bevor wir in sie eingetreten sind, ganz gewifi nichts 
gewufit haben, von der wir uns sagen konnen: Wir sind in der Lage, 
in die Regionen des Traumlebens auch anders hinunterzutauchen, so 
dafi wir in ihnen eine neue Welt uns aufgehend finden. - So haben 
wir die Traumwelt auf der einen Seite durchzogen von den Reminis- 
zenzen des gewohnlichen Lebens, von den Nachbildern des Alltags- 
lebens, und auf der anderen Seite haben wir eine Welt, ahnlich der 
Traumregion, in welcher Welt wir aber neue Erlebnisse, wirkliche, 
reale Erlebnisse haben, von denen wir nur sagen konnen, dafi es Er- 
lebnisse realer Art der anderen, geistigen Welten sind. Aber eine Be- 
dingung mufi erfiillt sein, wenn wir diese neuen Erlebnisse machen 
wollen im nachtlichen Halbschlaf. Die Bedingung mufi erfiillt sein, 
dafi wir auszuschalten vermogen die Reminiszenzen des alltaglichen 
Lebens, die Bilder des alltaglichen Lebens. Solange diese hineinspie- 
len in die Traumregion, so lange machen sie sich darin wichtig, 
mochte ich sagen, und verhindern, dafi die realen Erlebnisse der hohe- 
ren Welten hereinkommen. Warum ist dieses? Warum tragen wir in 
eine Region des Erlebens, in der wir hohere Welten erleben konnten, 
hinein die Nachbilder des alltaglichen Lebens? Warum tragen wir 
diese Nachbilder des alltaglichen Lebens in diese Region, in welcher 
sie sich so wichtig machen? 

Wir tun das aus dem Grunde, weil wir im alltaglichen Leben, ob 
wir es nun gestehen oder nicht gestehen, das allergrofite Interesse 
haben an dem, was gerade uns betrifft, an unseren eigenen aufieren 
Erlebnissen. Es kommt dabei gar nicht darauf an, dafi sich irgend- 
welche Menschen vorspiegeln, ihr Leben interessiere sie gar nicht 
mehr besonders. Durch solche Vorspiegelungen lafit sich nur derjenige 
beirren, der nicht weifi, wie die Menschen auf diesem Gebiete sich den 



allerargsten Illusionen hingeben. Der Mensch hangt tatsachlich ein- 
mal an den Sympathien und Antipathien des alltaglichen Lebens. 
Wenn Sie nun wirklich einmal durchgehen dasjenige, was in dem 
Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der hoheren Welten ?» als An- 
leitung gegeben ist fiir menschliche Seelenentwickelung, dann werden 
Sie sehen, dafi im Grunde alles darauf hinauslauft, unser Interesse 
uns abzugewohnen fiir das alltagliche Leben. Die Ausfiihrung der 
dortigen Anweisungen machen ja nun die Menschen in ganz ver- 
schiedener Weise. Es wird dieses Buch von dem oder jenem gelesen, 
es wird gelesen aus verschiedensten Griinden, und von den verschieden- 
sten Griinden aus wird sich ein Verhalten des Menschen zu diesem 
Buche ergeben. Da hort einmal jemand, vielleicht mit den schdnsten 
Gefuhlen: Wenn man diese Anweisung befolgt, dann kann man sich 
entwickeln so, dafi man in die hoheren Welten einen Einblick erhalt. 
- Das ist ja wahr, aber davon wollen wir nicht sprechen. Es regt sich 
dann aber die Neugierde - und warum sollte man auch nach anderen, 
hoheren Welten nicht neugierig werden -, es regt sich oft die Neu- 
gierde, wenn man auch zunachst mit schonen Gefuhlen an das Buch 
herangetreten ist. Dann beginnt nun jemand diese Ubungen zu 
machen, aber eigentlich nur in Neugierde zu machen. Das will aber 
nur eine gewisse Zeit hindurch gehen, denn allerlei innere Gefuhle, 
vor allem Gefuhle, iiber die man sich meistens nicht recht klar wer- 
den will, halten einen spater nach einer gewissen Zeit ab: man laftt 
die Sache liegen. Aber die Gefuhle, iiber die man sich nicht klar 
werden will, die man manchmal ganz anders interpretiert, das sind 
keine anderen, als dafi, wenn man diese Ubungen wirklich ausfiihren 
will, man sich dann in ganz anderer Weise Dinge abgewohnen muE - 
in Wahrheit gewohnt man sie sich eben nicht ab -, die mit Sympathie 
und Antipathie zusammenhangen. Diese Dinge gewohnt man sich 
nicht gerne ab. Man sagt zwar, daft man sich das gerne abgewohnt, 
aber man tut es nicht. Und der wirkliche Erfolg, den solche Ubungen 
haben konnen, der zeigt sich ja bei demjenigen Menschen, der es ener- 
gisch ernst meint, doch eigentlich recht bald, der zeigt sich eben 
darin, daft die Sympathien und Antipathien gegeniiber dem Leben 
sich etwas andern. Nur muE gesagt werden: Schon em wemg selten 



macht man diese Erfahrung, dafi sich einer dem Einflufi der Ubungen 
so hingibt, dafi sich auch wirklich die Empfindungen iiber Sympathie 
und Antipathie andern. Wenn aber die Ubungen energisch ernst ge- 
nommen werden, dann geschieht das. In energischer Weise andern sich 
Sympathie und Antipathie gegeniiber dem alltaglichen Leben. 

Das bedeutet viel, sehr viel, das bedeutet in der Tat, dafi wir ge- 
rade diejenigen Krafte bekampfen, die so wirken, daft sich die alltag- 
lichen Erlebnisse als Nachbilder, als Reminiszenzen in die Traume 
hineinschleichen. Denn sie tun das nicht mehr, wenn wir es auf ir- 
gendeinem Gebiete, ganz gleich auf welchem, so weit gebracht haben, 
unsere Sympathie und Antipathie zu andern. Man macht ja auf die- 
sem Gebiete ganz pragnante Erfahrungen. Diese Anderung der Sym- 
pathiekrafte braucht gar nicht einmal auf einem besonders hohen 
Gebiete zu liegen. Auf irgendeinem Gebiete mufi nur energisch durch- 
gefiihrt werden, dafi sich die Sympathien und Antipathien andern. 
Es kann in den alleralltaglichsten Dingen liegen, aber irgendwo mufi 
eine solche Anderung eintreten. Da gibt es Menschen, die sagen: Ich 
iibe taglich, morgens und abends, und auch sonst noch Stunden lang, 
aber ich kann nicht einen Schritt in die geistigen Welten hinein 
machen. - Es ist wirklich manchmal recht schwierig, solchen Men- 
schen klar zu machen, wie leicht das zu verstehen ist, daf$ sie das 
nicht konnen. Oftmals brauchen ja die Menschen nur zu bedenken, 
dafi sie heute, vielleicht nach zwanzig, fiinfundzwanzig, vielleicht 
sogar nach dreifiig Jahre langen Ubungen, noch auf dieselben Dinge 
schimpfen, auf die sie damals vor fiinfundzwanzig Jahren ebenso 
geschimpft haben. Ja, genau dieselbe Form des Schimpfens ist ihnen 
noch immer eigen wie dazumal. 

Aber noch etwas Gewohnlicheres: Es gibt ja Menschen, die sich 
bemiihen, auch aufierliche Mittel, die im Okkultismus gewisse Folgen 
zeigen, anzuwenden. Sie werden zum Beispiel Vegetarier. Aber siehe 
da, nun gibt es Menschen, die mit allem Ernste sich vornehmen, wirk- 
lich sich etwas abzugewohnen und die zunachst mit allem Ernst her- 
angehen, dann aber, trotzdem sie Ubungen durch Jahrzehnte hin- 
durch gemacht haben, nichts erlangen. Ein solcher Mensch sagt sich: 
Wenn ich doch nur ein klein winziges Stiickchen von den Geistes- 



welten erlebte! - Er miifite eben nur bedenken, dafi er vielleicht 
immer wieder zu den Fleischtopfen Agyptens zuriickgekehrt ist, 
weil er eben die alte Sympathie fur das Fleisch doch nicht hat nie- 
derkampfen konnen. Er selbst denkt an ganz andere Griinde, denkt, 
dafi er das Fleisch notig hat. Er sagt zum Beispiel: Mein Gehirn 
verlangt es. 

Stellen wir uns daher die Sache, welche die Umanderung der 
Sympathie und Antipathie betrifft, nicht so leicht vor. Leicht ist es, 
doch - so mochte man mit einer Reminiszenz an ein «Faust»-Zitat 
sagen -: «Leicht ist es zwar, doch ist das Leichte schwer.» Gerade 
mit diesem Paradoxon mufi man oftmals die sich entwickelnde 
Seelenstimmung dessen schildern, der hinaufsteigen will in die hohe- 
ren Welten. Es kommt nicht darauf an, diese oder jene Sympathie 
oder Antipathie zu andern, sondern es kommt nur darauf an, iiber- 
haupt irgendeine Sympathie oder Antipathie ernsthaft zu andern. 
Dann kommt man nach bestimmten Ubungen in die Region des 
Traumlebens so hinein, dafi man gleichsam nichts hineinbringt von 
dem alltaglichen Leben, von den Sinneserlebnissen. Dadurch aber 
haben die neuen Erlebnisse gewissermaften Platz darinnen. 

Jetzt weifi man, wenn man wirklich praktisch durchgemacht hat 
ein solches Erlebnis durch eine okkulte Entwickelung, dafi gewisser- 
mafien noch eine Schicht des Bewufitseins im Menschen vorhanden 
ist. Das tagliche Bewulksein kennt ja jeder Mensch: es ist das wache 
Tagesbewulksein, durch das er denkt, fiihlt und will, von dem er ge- 
wohnt ist zu wissen seit dem Bewufitwerden seiner selbst in seiner 
Kindheit, von welchem Augenblicke an er bis zum Tode gleichsam 
ein bewufites Seelenleben fiihrt. Wenigstens bei den meisten Menschen 
ist es so. Hinter diesem tagwachen Bewulksein liegt eine andere 
Schicht des Bewufitseins. In diesem anderen sind fur das alltagliche 
Erleben die Traume darinnen. Daher konnen wir sagen: es ist dieses 
das Traumbewufksein. - Aber wir haben auch gesehen, es ist nicht 
blofi das Traumbewufitsein. Traumbewufitsein wird es nur dadurch, 
dafi wir vom taglichen Bewufitsein dasjenige hineintragen, was wir in 
diesem taglichen Bewufitsein erleben. Wenn wir das nicht tun, wenn 
wir es von diesen Erlebnissen leer machen, dann konnen aus den ho- 



heren Welten Erlebnisse in diese Region unseres Seelenlebens hinein- 
kommen, Erlebnisse, welche eben wirklich auch in der uns umgeben- 
den Welt da sind, von dem gewohnlichen Bewufttsein aber nicht 
wahrgenommen werden konnen, auch in dem Traumbewufksein nicht, 
weil aus diesem erst die Reminiszenz herausgetrieben werden mufite 
an das tagliche Leben, damit es leer wird, Platz geben kann diesen 
Erlebnissen. 

Wenn solche Erlebnisse, wie ich sie sozusagen als elementare ge- 
schildert habe, auftreten, dann weift man allerdings, daft wir gar 
nicht mehr im richtigen Sinne sprechen, wenn wir von diesem Be- 
wufttsein als von einem Traumbewufksein reden wiirden, sondern 
wir wissen, daft in der Tat unser alltagliches Bewufttsein zu dem, 
was wir da erleben konnen, nach und nach selber sich wie ein Traum 
zur Wirklichkeit verhait. Es wird fur uns dann fur die hohere Er- 
fahrung richtig, daft das alltagliche Bewufttsein gerade eine Art 
Traumbewufksein ist, und hier erst die Wirklichkeit beginnt. 

Nehmen wir das zweite Beispiel, und versuchen wir uns klar zu 
machen, wie der Mensch in seinem Gefuhle dazu kommt, sich wirk- 
lich zu sagen, daft ein hoheres Bewufksein fur ihn beginnt. Wir sagen 
uns: Wir haben mit einem Schicksalsschlage gelebt, den wir als bitter 
empfunden haben, aber wir haben bemerkt, daft in unserer Seele 
etwas war, was diesen Schicksalsschlag gesucht hat. Und jetzt fiihlen 
wir auch, daft wir fur unsere Seele diesen Schicksalsschlag brauchten, 
jetzt fiihlen wir praktisch zum ersten Male, was Karma ist. Wir fiih- 
len, wir mufiten diesen Schicksalsschlag suchen. Wir traten herein in 
diese unsere Inkarnation mit einer Unvollkommenheit unserer Seele, 
und weil wir diese Unvollkommenheit fuhlten, zwar nicht im Be- 
wufksein, sondern in den Tiefen der Seele, deshalb zog es uns ma- 
gnetisch dazu hin, diesen Schicksalsschlag wirklich zu erleben. Da- 
durch haben wir eine Unvollkommenheit unserer Seele bezwungen, 
abgeschafft, dadurch haben wir ein Wichtiges, Reales getan. Wie 
oberflachlich ist dagegen das Urteil des Alltags, das dies oder jenes 
als antipathisch empfindet. Die hohere Wirklichkeit ist diese, daft 
unsere Seele fortschreitet von Inkarnation zu Inkarnation, nur eine 
kurze Zeit lang kann sie das Antipathische dieses Schicksalsschlages 



empfinden. Wenn sie aber liber den Horizont dieser Inkarnation 
blickt, dann fiihlt sie ihre Unvollkommenheiten, dann fiihlt sie die 
Notwendigkeit - ja, sie fiihlt es starker als mit dem gewohnlichen 
Bewufttsein — , dann fiihlt sie als das Notwendige, vollkommener und 
immer vollkommener zu werden. Das gewohnliche Bewufttsein hatte, 
wenn es vor diesen Schicksalsschlag vorher gestelk worden ware, sich 
feige an diesem Schlag vorbeigeschlichen, hatte nicht die Notwendig- 
keit gewahlt. Konnte es wahlen, so schliche es sich feige vorbei an 
dem ihm antipathischen Schicksalsschlag. Aber das tiefere Bewuftt- 
sein, von dem wir nichts wissen, das schleicht sich nicht feige vorbei, 
das zieht es gerade herbei; das laftt das Schicksal, das es als einen 
Vervollkommnungsprozefi empfindet, so wirken, daft es sich sagt: 
Ich bin hineingetreten in dieses Leben, bin mir bewuftt gewesen, daft 
ich von meiner Geburt an mit einer Unvollkommenheit der Seele be- 
haftet gewesen bin. Will ich die Seele entwickeln, so muft diese be- 
reitet werden. Dann aber muft ich hineilen zu diesem Schicksale. - 
Das ist das starkere Element in der Seele, das ist das Element, gegen- 
iiber dem das Gespinst des gewohnlichen Bewufttseins mit seinen 
Antipathien und Sympathien sich wie ein Traum ausnimmt. Driiben 
tritt man in das Fiihlen und Erleben der Seele ein, das tief in den 
Untergriinden derselben fur das Alltagsbewufttsein schlummert, von 
dem man sich hier sagt, daft es mehr weift von uns, daft es starker ist 
in uns als unser gewohnliches Bewufttsein. 

Und jetzt merken wir auch noch ein anderes. Wenn man wirklich 
dieses, was eben jetzt auseinandergesetzt worden ist, als ein eigenes 
Erlebnis der Seele hat, wenn man es nicht nur theoretisch kennt, son- 
dern wenn man einmal solch ein Gefiihl wirklich erlebt hat, dann 
hat man mit diesem notwendigerweise noch ein anderes Erleben. Man 
hat das Erleben: Ja, du kannst schon hinein in diese Regionen, wo 
alles anders wird als im gewohnlichen Bewufttsein. - Aber man fiihlt 
zugleich, und tief fiihlt man es: Ich will nicht. - In der Regel ist bei 
den meisten Menschen die Neugierde, da hinemzukommen, gar nicht 
so groft, daft sie iiberwinden konnten dieses schauerliche: Ich will 
nicht. Dieses Nichtwollen, das da auftritt, mit ungeheurer Macht 
tritt es auf in diesem Gebiete, das wir gerade jetzt beriihren. Da kon- 



nen die mannigfachsten Mifiverstandnisse entstehen. Nehmen wir an, 
jemand habe sogar ganz personliche Anweisungen bekommen. Er 
kommt zu demjenigen, der sie gegeben hat, und sagt: Damit erreiche 
ich gar nichts, deine Anweisungen sind gar nichts wert. - Das kann 
ein ehrlicher Glaube sein, ein ganz ehrlicher Glaube. Aber das, was 
als Antwort gegeben werden miifke, das kann ganz unverstandlich 
demjenigen sein, der diesen ehrlichen Glauben hat. Die Antwort 
miifke namlich sein: Du kannst schon hinein, aber du willst nicht. - 
Das ist wirklich die Antwort. Aber das weifi der andere ja nicht, er 
glaubt ja ehrlich, dafi er den Willen hat, denn dieser Nichtwille selbst 
bleibt im Unterbewufksein. So versteht er es nicht, dafi er eigentlich 
nicht will. Denn in dem Moment, wo er sich das eigentlich klar 
machen wollte, dampft er schon diesen Willen ab. Der Wille, nicht 
hineinzukommen, beriihrt ihn so schauerlich, dafi er ihn sofort ab- 
dampft, wenn er auftritt. Denn dieser Wille ist recht fatal, sehr, 
sehr fatal. Namlich dasjenige, was man da bemerkt, aber sobald man 
es bemerkt, ausloschen will, das ist: Mit dem Ich, mit dem Selbst, 
das du dir herangezogen hast, kannst du da nicht hinein. 

Wenn der Mensch sich hoher entwickeln will, so fuhlt er sehr 
stark: Dieses Selbst mufit du zuriicklassen. - Das aber ist etwas sehr 
Schwieriges, denn die Menschen hatten dieses Selbst nie ausgebildet, 
wenn sie nicht das tagliche Bewufitsein hatten. Das ist da, damit wir 
unser gewohnliches Ich haben, das ist gekommen in die Welt, damit 
der Mensch sein niederes Selbst entwickelt. - Der Mensch spurt also, 
wenn er hinein will in die wirkliche Welt, daft er das zuriicklassen 
soil, was er da draufien hat entwickeln konnen. Da hilft nur eines, 
ein einziges: dafi dieses Selbst im taglichen Bewufitsein sich starker 
entwickelt hat, als es notwendig ist fur das tagliche Bewufitsein. 
Gewohnlich hat der Mensch es nur so weit entwickelt, als es not- 
wendig ist. Wenn Sie den zweiten Punkt des Buches «Wie erlangt 
man Erkenntnisse der hoheren Welten?» ins Auge fassen, dann wer- 
den Sie finden, dafi dieser zweite Punkt der ist, das Selbst starker zu 
machen, kraftiger zu machen, als man es braucht fiir das tagliche 
Leben, damit man nachts herausgehen kann aus seiner Leiblichkeit 
und noch etwas hat, was man gewissermafien nicht gebraucht hat. 



Nur dann hat man also nicht den Willen, zuriickzubeben vor dieser 
hoheren Welt, wenn man in seinen Ubungen verstarkt und erkraftet 
hat das gewohnliche Selbst, wenn man einen Uberschufi an Selbst- 
gefiihl hat. 

Da entsteht aber eine neue Gefahr, eine ganz betrachtliche Ge- 
fahr. Man bringt jetzt vielleicht nicht die Reminiszenzen an das all- 
tagliche Leben im Traume herauf, aber man bringt erweitertes, 
durchkraftetes Selbstbewufitsein herauf, man fiillt gleichsam diese 
Region mit seinem gekraftigten Bewufksein, mit seinem hoher aus- 
gebildeten, kraftvoll ausgebildeten Selbst an. Wer durch solche 
Ubungen, wie sie in dem Buch «Wie erlangt man Erkenntnisse der 
hoheren Welten?» beschrieben sind, Erfahrungen hat, wie ich sie im 
vorigen Vortrage als innere Seelenerfahrungen bei Arjuna ge- 
schildert habe — ob man auf sozusagen kiinstlichem Wege, durch 
Schulung sein Selbst erkraftet und erweitert, oder vom Schicksal 
dazu bestimmt ist, sein Selbst in einer bestimmten Zeit zu erweitern, 
das Ergebnis ist dasselbe wer solche Erfahrungen macht, der ge- 
langt in die Region des Traumlebens mit seinem erweiterten, er- 
krafteten Selbst hinein. Bei Arjuna ist das der Fall, er steht sozu- 
sagen an der Grenze zwischen der Alltagswelt und der Welt des 
Traumlebens. Er lebt sich hinein in diese hohere Region so, daft er 
durch sein Schicksal - und diesen Punkt werde ich noch weiter aus- 
fiihren da& er durch sein Schicksal in dieser Region ein kraft- 
volleres Selbst hat als er sonst braucht im alltaglichen Leben, im all- 
taglichen Bewufitsein. Wir werden horen, warum gerade Arjuna 
sein kraftvolleres Bewufitsein hat. Aber siehe da, indem er dort ein- 
dringt, nimmt ihn sogleich Krishna auf. Krishna hebt den Arjuna 
iiber das Selbst hinauf, das in ihm veranlagt war, und so wird 
Arjuna nicht derjenige Mensch, der er hatte werden miissen, wenn 
er mit seinem erweiterten Selbst nicht dem Krishna begegnet ware. 
Was ware dann geschehen, wenn Arjuna nicht dem Krishna be- 
gegnet ware? Dann hatte er sich auch gesagt: Da kampfen Bluts- 
verwandte gegen Blutsverwandte, da treten Ereignisse auf, welche 
die alte, heilsame Kasteneinteilung in Triimmer schlagen, welche die 
Frau ruinieren, den Manendienst in Triimmer schlagen; Verhaltnisse 



treten auf, die uns verbieten, unseren Manen Opferfeuer aufzurich- 
ten. - Die heilsame Kasteneinteilung zu verehren, Opferfeuer den 
Ahnen aufzurichten, ein treuer Nachkomme der Ahnen zu sein, 
gehorte fur Arjuna zu seinem alltaglichen Bewufttsein. Er ist durch 
sein Schicksal aus diesem alltaglichen Bewufttsein herausgerissen, er 
muE stehen auf dem Boden, wo er brechen mufi mit seinem heiligen 
Gefuhl, Opferfeuer aufzurichten den Ahnen, die Kasteneinteilung 
zu schatzen und den Zusammenhang des Blutes zu verehren. Jetzt 
mufite er sich sagen: Hinweg mit alle dem, was mir heilig ist im all- 
taglichen Bewufitsein, hinweg mit alle dem, was mir uberkommen 
ist, hineinsturzen will ich mich in die Schlacht. - Nein, das geschieht 
nicht, sondern Krishna tritt dem Arjuna entgegen, und Krishna 
redet gleichsam dasjenige, was so als die aufterste Rucksichtslosigkeit, 
als auf die Spitze getriebener Egoismus erscheinen mufite bei Ar- 
juna. Krishna bricht das ab, macht das nicht moglich, indem er 
sich selbst sichtbar macht dem Arjuna, indem er, was sonst Ar- 
juna erlebt hatte, was sonst Arjuna gebraucht hatte, um in sich 
zu leben, indem Krishna diesen Uberschufi Arjunas als Kraft ge- 
braucht, um sich dem Arjuna sichtbar zu machen. Wir konnen 
auch sagen, um uns diesen Gedanken noch klarer vor die Seele zu 
stellen: Wenn Arjuna einfach dem Krishna entgegentreten wiirde, 
und Krishna auch wirklich zu Arjuna kommen wiirde, wissen 
wiirde Arjuna von Krishna nichts, ebensowenig wie wir von der 
Sinnenwelt etwas wissen wiirden, wenn wir nicht aus der Sinnenwelt 
selbst etwas herausbekommen hatten, um unsere Sinne fur diese Welt 
zu bilden. So muE auch Krishna aus dem Arjuna herausnehmen 
dessen erweitertes, erkraftetes Selbstbewufttsein. Er mufi es gewisser- 
mafien ihm ausreifien, wenn er sich mit Hilfe dessen, was er dem 
Arjuna entrissen hat, selber dem Arjuna zeigen will. So macht er 
aus dem, was er entrissen hat, gleichsam den Spiegel, um sich dem 
Arjuna zeigen zu konnen. 

Wir haben den Punkt aufgesucht in dem Bewulksein des Arjuna, 
wo Krishna dem Arjuna hat begegnen konnen. Unerklarlich bleibt 
in diesen Auseinandersetzungen nur noch, wie Arjuna denn iiber- 
haupt es bis dahin gebracht hat. Denn nirgends tritt uns eine Mit- 



teilung entgegen, dafi Arjuna okkulte Ubungen gemacht hatte, und 
die hat er auch nicht gemacht. Woher kommt es, dafi er dem Krishna 
begegnen kann, was hat denn eigentlich dem Arjuna ein erhohtes, 
erkraftetes Selbstbewufitsein gegeben? Von dieser Frage wollen wir 
im nachsten Vortrage ausgehen. 



VIERTER VORTRAG 



Helsingfors,31.Mail913 

Wir haben gesehen, dafi der Mensch, wenn er einriicken will in jene 
Region, in welcher auch die Traume gewoben werden, mitbringen 
mufi in diese Region aus der gewohnlichen Welt dasjenige, was man 
nennen kann ein verstarktes Selbstbewufitsein, ein Mehr in dem Ich, 
als dieses Ich notig hat fur den physischen Plan, fur die physische 
Welt. In unserer Gegenwart wird dieses Mehr von Selbstbewufitsein, 
dieser Uberschufi aus unserer Seele durch dasjenige herausgebildet, 
was wir erleben konnen durch solche Ubungen, wie sie erwahnt sind 
in dem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der hoheren Welten?». 
Es findet zunachst also eine solche Verstarkung, Erkraftung des 
Selbstes statt. Weil der Mensch sozusagen empfindet, dafi er das 
braucht, so uberkommt ihn auch etwas wie eine Art Furcht, wie eine 
Art Angst, eine Art Scheu, hinauf sich zu entwickeln in die hoheren 
Welten, wenn er diese Starke im inneren Selbst noch nicht erlangt hat. 

Nun habe ich oftmals betont, daft die Menschenseele im Verlauf 
der Evolution die verschiedensten Stadien durchgemacht hat. Was 
heute durch die genannten Ubungen eine solche Menschenseele der 
Gegenwart erlangen kann an Erhohung, an Erkraftung des Selbst- 
bewufltseins, das konnte sie auf dieselbe Art nicht eigentlich erreichen 
in der Zeit, in welche wir zu versetzen haben den erhabenen Sang, 
die Bhagavad Gita. Dafur war in alten Zeiten im menschlichen Selbst, 
im menschlichen Bewufitsein etwas anderes vorhanden: Es war noch 
die erste, uralte Hellsichtigkeit in der Menschenseele vorhanden. Hell- 
sichtigkeit ist auch etwas, was man sozusagen fur das gewohnliche 
Selbst auf dem physischen Plan nicht eigentlich braucht, wenn man 
nur mit dem, was eben jeweilig der physische Plan enthalt, sich zu- 
frieden geben kann. 

Aber jene alten Zeiten, jene alten Menschen der Zeit, in welche 
wir die erhabene Gita zu versetzen haben, hatten eben noch die Reste 
uralten Hellsehens. Wir blicken auf der einen Seite zuriick bis zu sol- 
chen Menschen, die Zeitgenossen waren der Entstehung der Bhagavad 



Gita. Diese Menschen konnten sich sagen: Wenn ich die physische 
Umwelt schaue, dann bekomme ich Eindriicke durch meine Sinne, 
dann konnen diese Eindriicke der Sinne durch den Verstand, der an 
das Gehirn gebunden ist, kombiniert werden. Aber ich habe aufierdem 
noch eine andere Kraft, durch die ich hellsehend ein Wissen mir an- 
eignen kann von anderen Welten. Und diese Krafte bezeugen mir, 
dafi die Menschen auch noch anderen Welten angehoren, dafi ich als 
Mensch noch hineinrage in andere Welten, iiber die gewohnliche phy- 
sische Welt hinaus. - Das aber ist eben das verstarkte Selbstbe- 
wufksein, das unmittelbar in der Seele hervorspriefien lalk das Wis- 
sen, dafi diese Seele nicht allein der physischen Welt angehort. Es ist 
gleichsam ein Uberdruck im Selbst, was da hervorgerufen wird durch 
jene, wenn auch letzten Reste hellsichtiger Kraft. Und heute wieder- 
um kann der Mensch solche Krafte eines Uberdruckes in sich ent- 
wickeln, wenn er entsprechende okkulte Ubungen in seiner Seele 
vollzieht. 

Da konnte eingewendet werden - und Sie wissen ja, dafi immer 
an der entsprechenden Stelle in anthroposophischen Vortragen vor- 
weggenommen werden solche Einwande, die der wahre Okkultist 
selber recht gut weifi -, da konnte eingewendet werden: Ja, wie 
kommt iiberhaupt der Mensch in unserer Zeit dazu, solche okkulten 
Ubungen machen zu wollen? Warum ist er nicht zufrieden mit dem, 
was der Verstand bietet, der an das Gehirn gebunden ist? Warum will 
der Mensch solche okkulten Ubungen? - Da beriihren wir eine Frage, 
die nicht nur eine Frage, sondern eine Art Tatsache ist fur jede 
sinnige Seele im gegenwartigen Menschheitszyklus. Wenn der Mensch 
wirklich in seiner Seele zu nichts kame als zu dem, was nur die 
Sinne ihm zeigen, was ihm der Verstand gibt, der an das aufiere 
physische Instrument, das Gehirn, gebunden ist, dann ware er ganz 
sicher zufrieden mit seinem Dasein, ohne irgendeine Begierde zu 
entwickeln nach hoheren ubersinnlichen Welten. Der Mensch wiirde 
in einem solchen Falle sehen, wie sich die Dinge und Ereignisse um 
ihn herum verhalten und abspielen, er wiirde sie entstehen und ver- 
gehen sehen, nicht aber iiber Entstehen und Vergehen in sich eine 
Frage stellen, sondern damit zweifellos zufrieden sein, wie etwa zu- 



frieden sein kann das einzelne Tier mit seinem Dasein. Das kann der 
Mensch im Grunde genommen ganz gut in der Lage, in welcher 
heute der materialistisch gesinnte Mensch den Menschen denken 
mdchte. Das Tier ist in der Lage, mit seinem gewohnlichen Bewufit- 
sein nur aufzunehmen dasjenige, was vor den Sinnen entsteht und 
vergeht; auch ist das Tier zufrieden mit dem, was vor den Sinnen 
sich abspielt. So ist es aber nicht bei dem Menschen. Aber warum ist 
es nicht so beim Menschen? 

Ich rede in diesem Zusammenhange immer von dem Menschen 
der Gegenwart. Denn noch im alten Griechenland war es im Grunde 
nicht so fur die Menschenseele, wie es heute ist. Wenn wir heute 
wirklich mit voller Seele an die Naturwissenschaft herangehen, Na- 
turwissenschaft uns erwerben, wenn wir an dasjenige herangehen, 
was im geschichtlichen Werden vor sich geht, uns die aufiere Histo- 
riologie, Geschichtswissenschaft aneignen, dann kommt mit alle dem, 
was wir uns da aneignen, zugleich etwas in diese Menschenseele her- 
ein, es schleicht sich ganz verstohlen mit alldem etwas in die Men- 
schenseele hinein, wofur eigentlich Zweck und Sinn fehlt im aufieren 
physischen Leben. Man hat daher mannigfache Vergleiche gebraucht 
fur dasjenige, was sich da einschleicht. Einen solchen mochte ich doch 
erwahnen, weil er oftmals gemacht wird, ohne dafi eigentlich wirk- 
lich nachgedacht wird iiber seine tiefere Bedeutung. Eine sehr be- 
riihmte medizinische Autoritat hat im letzten Drittel des 19. Jahr- 
hunderts einmal, um sozusagen das Ehrwiirdige der selbstandigen 
Wissenschaft bedeutungsvoller an der Akademie der Wissenschaft 
hervorzuheben, aufmerksam gemacht auf einen griechischen Philo- 
sophen, der einmal gefragt worden ist: Wie ist es denn eigentlich mit 
dem philosophischen Nachdenken iiber des Lebens Sinn und Zweck? 
Wie verhalt sich dieses Nachdenken zu den anderen Tatigkeiten der 
Menschen, die sich durch andere Arbeit, durch niitzliche Tatigkeit 
beteiligen am allgemeinen Leben? - Da hat jener Philosoph folgende 
Antwort gegeben: Man betrachte sich einmal einen Jahrmarkt. Da 
kommen die Menschen zum Verkauf und Kauf. Diese sind alle be- 
schaftigt. Aber auch einige andere finden sich ein, die wollen nichts 
verkaufen und auch nichts kaufen, sondern sie wollen betrachten, 



nur anschauen, wie es da zugeht auf dem Jahrmarkt. - Der Philosoph 
wollte namlich sagen: Der Jahrmarkt sei das Leben. Da sind die 
Menschen beschaftigt in mannigfacher Form. Die Philosophen aber, 
die nicht beschaftigt sind mit dem, was andere Menschen beschaftigt, 
lungern herum, gehen herum und schauen sich alles blofi an, um alles 
kennenzulernen. 

Es ist schon einmal in das Fleisch und Blut der sogenannten intel- 
lektuellen Menschheit eingedrungen, daft man die Philosophen des- 
halb, weil sie nicht offensichtlich teilnehmen an der niitzlichen Tatig- 
keit im Leben, gerade wegen ihrer auf sich selbst gestellten, selbstan- 
digen Wissenschaft, die sich vollkommen selbst geniigt, ganz besonders 
schatzen will. Aber dieser Vergleich sollte denn doch einigermaften 
zum Nachdenken anregen. Vielleicht konnte das banausisch scheinen, 
aber es ist doch nicht ganz banausisch, wenn man defer nachdenkt. 
Dieser Vergleich konnte namlich recht gut zum Nachdenken anregen. 
Es ist denn doch recht bedenklich, daft man die Philosophen ver- 
gleicht mit den Herumlungerern auf dem Jahrmarkt des Lebens, die 
eigentlich zwecklos sind, die da herumgehen zwischen Leuten, die 
alle einen Zweck haben. Das ware doch auch ein mogliches Nach- 
denken. Es werden eben durchaus oftmals Urteile gefallt, welche viel- 
leicht an ihrem Ausgangspunkte ganz zweifellos richtig sind. Wenn 
sie sich aber durch Jahrhunderte oder, wie dieses, sogar durch Jahr- 
tausende fortschleppen, dann konnen sie doch recht unrichtig werden. 
Daher darf die Frage aufgeworfen werden: Sind denn wirklich alle, 
iiber die so im allgemeinen ein Urteil gefallt wird, sind die wirklich 
zunachst die Herumlungerer im Leben? 

Es kommt nur darauf an, wonach man das Leben bewertet. Ganz 
gewifi gibt es Menschen, die die Philosophen wirklich als unnutze 
Herumlungerer ansehen und glauben, dafi es gescheiter ware, irgend- 
ein nutzliches Handwerk zu treiben. Von ihrem Standpunkte mogen 
diese Menschen sogar ganz recht haben. Aber es kommt darauf an, 
daE, wenn man das Leben mit den Sinnen betrachtet und mit dem 
Verstande, der an das Gehirn gebunden ist, dann wie verstohlen 
Dinge in die menschliche Seele hineinschleichen, die ganz offenkundig 
gar keinen Zusammenhang haben mit der Aufienwelt, welche uns 



sinnlich umgibt. Man kann das sehr gut sehen bei der Lektiire solcher 
Biicher, die aus rein materialistischer Grundlage heraus eine befriedi- 
gende Weltanschauung zimmern wollen, welche die Weltratsel losen 
soil. Dann stellt sich gewohnlich heraus, dafi am Ende dieser Biicher 
iiberhaupt erst Fragen auftauchen. Diese Biicher werfen im allgemei- 
nen die Weltratsel erst auf an ihrem Ende. Es schleicht sich eben ein 
Gedanke ein mit der Aufnahme dessen, was diese Biicher behandeln, 
mit der Aufnahme der Aufienwelt, ein Gedanke, mit dem man sich 
sagen mufi: Entweder ist der Mensch noch fur andere Welten da als 
nur fur die physische Welt, oder diese physische Welt beliigt, prellt 
einen fortwahrend, indem sie uns Ratsel aufgibt, die wir nicht be- 
antworten konnen. Eine ganze Summe unseres Seelenlebens ist sinn- 
los, wenn wirklich das Leben mit dem Tode abschliefien wiirde, wenn 
der Mensch keinen Anteil, keinen Zusammenhang hatte mit der 
hoheren Welt. Und die Sinnlosigkeit dessen, was er hat, nicht die 
Sehnsucht nach etwas, was er nicht hat, das ist es, was den Menschen 
dazu treibt, dem nachzugehen, wie es sich damit verhalt, da!5 in die 
Seele etwas kommt, was gar kein Burger unserer Sinnenwelt ist. Und 
das treibt ihn dazu, etwas auszubilden, wie es eben durch okkulte 
Ubungen geschehen kann, etwas, was ganz offenkundig nicht mit der 
Aufienwelt zusammenhangt. Wir wiirden nicht sagen, der Mensch 
habe die Sehnsucht nach der Unsterblichkeit in sich, und deshalb 
bilde er sich den Begriff der Unsterblichkeit, deshalb erfinde er sie, 
sondern: der Mensch hat so, wie er lebt, etwas von der Aufienwelt 
hereinbekommen in seine Seele, was ganz sinnlos, zwecklos, wesenlos 
ware, wenn das Dasein nur zwischen Geburt und Tod eingeschlossen 
ware. Der Mensch mufi fragen nach Sinn und Zweck, iiberhaupt 
nach der ganzen Wesenhaftigkeit von etwas, was er hat, und nicht 
von etwas, was er nicht hat. 

So ist der Mensch der Gegenwart in der Tat nicht mehr ganz in 
der Lage - und darum kann er sich in der heutigen Zeit nicht auf den 
griechischen Philosophen berufen -, er ist nicht mehr ganz in der 
Lage eines blofien Herumlungerers, eines blofien Strabanzers, sondern 
er ist in einer anderen Lage: in der Lage, dafi man ihn vergleichen 
kann mit einer Personlichkeit, die nur Worte verleiht demjenigen, 



was eigentlich in alien lebt. Im alten Griechenland pafite tatsachlich 
der Vergleich des Philosophen. Heute paftt er nicht mehr, heute ist 
die Sache anders. Wenn wir das Leben wiederum mit einem Jahr- 
markt vergleichen, so konnen wir auch heute sagen: Da kommen 
Kaufer und Verkaufer. Wenn sie nun den Jahrmarkt abschliefien 
und abzahlen, ob alles stimmt, dann finden sie - so wunderbar das 
klingt, aber jeder Vergleich hinkt ja ein wenig, und dieser ist sogar 
in gewissem Sinne um so besser, je mehr er hinkt -, dann finden sie 
etwas, was da ist, was aber weder gekauft noch verkauft hat werden 
konnen, wovon nicht zu ergriinden ist, woher es kommt. So ist es 
zwar nicht bei einem Jahrmarkt, aber so ist es beim Jahrmarkt des 
Lebens. Indem wir das Leben durchleben, finden wir fortwahrend 
Dinge, die aus dem Leben herausspriefien, fur die es aber keine Er- 
klarung in der Sinnenwelt gibt. Das ist der tiefere Grund, warum 
es heute in der Welt Menschen gibt, die an dem Dasein verzweifeln 
konnen, die unbestimmte Sehnsuchte haben konnen: weil eben beim 
Menschen der Gegenwart etwas in der Seele wirkt, was keine Burger- 
schaft hat in der physischen Welt, was aber Fragen nach anderen 
Welten aufwirft. 

Das aber, was wir heute in der Seele erwerben mussen, damit 
Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit gegeniiber dem Leben nicht auf- 
komme, gegeniiber einer Sache, die sonst sinnlos ware, das hatte ein 
Mensch wie Arjuna einfach deshalb, weil seine Seele noch heraus- 
ragte aus einer Zeit, wo das uralte menschliche, primitive Hellsehen 
noch da war. Aber Arjuna befindet sich gleichzeitig in einem 
Ubergangszeitpunkt - und das ist das Wesentliche, das Bedeutungs- 
volle, wenn die Bhagavad Gita verstanden werden soli -, Arjuna 
befindet sich in jener Zeitentwickelung, wo nur noch Reste, letzte 
Nachklange des uralten Hellsehens vorhanden waren. Die Menschen 
riickten in der Zeit, in der etwa die Bhagavad Gita entstand, in eine 
Zeit der Evolution, in der dieses alte Hellsehen allmahlich verloren- 
ging. Und das ist der ganz tiefe Grundzug der Bhagavad Gita, der 
Hauch, der iiber die Bhagavad Gita ausgegossen ist, dafi aus ihr die 
Tone herausklingen, die von jener Zeitenwende kommen, in der das 
alte Hellsehen der Menschheit in seinem Absterben war, wo dem 



Abendrot des alten Hellsehens gegeniiber jene Nacht beginnen sollte, 
in der diejenige menschliche Kraft erst geboren werden konnte, wel- 
che die alte Menschenseele noch nicht hatte und in unserer Zeit die 
gewohnliche Menschenseele hat. 

So ist Arjuna eine Seele, von der man sagen kann: Altes Hell- 
sehen ist in letztem Nachklang noch in seiner Seele vorhanden, aber 
immer so, dafi es wie verglimmt in der Seele, nicht mehr so recht 
da sein will, dafi es braucht ein solches erschutterndes Ereignis, wie 
ich es geschildert habe, um wieder wachgerufen zu werden, wieder 
hervorgerufen zu werden. Was ist es also, was da in dem Moment, 
wo Arjuna momentan hellsichtig dem Krishna gegenubertritt, was ist 
es, was da die hellseherische Kraft aus der Seele des Arjuna hervor- 
ruft? Es ist das erschiitternde Ereignis, das ich erzahlt habe. Und 
jene hellseherische Kraft holt es hervor, die in alten Zeiten dem 
Menschen allgemein eigentiimlich war. Was kann nun Arjuna se- 
hen, schauen dadurch, daft bei ihm hervorgerufen wird die alte hell- 
seherische Kraft, die sonst sich schon dem Untergange neigte in 
seiner Seele? Trocken und rein historisch gesprochen, soli Arjuna 
der geistigen Wesenheit entgegentreten, welche wir im Sinne der 
Bhagavad Gita als Krishna anzusprechen haben. 

Nun mufi, damit volliges Verstandnis ausgebreitet werden kann 
iiber dasjenige, was eigentlich in der Seele des Arjuna vorgeht, auf- 
merksam gemacht werden darauf, daft jenes Erheben der Menschen- 
seele in die Region, aus welcher sonst die Traume gewoben werden, 
heute eigentlich nicht mehr ganz dazu fuhrt, Krishna oder die Wesen- 
heit des Krishna voll zu verstehen. Wenn wir auch wirklich all die 
Krafte ausbilden, die uns bewufit hinuberfiihren in die Region, die 
wir im vorigen Vortrag charakterisiert haben als die Region des 
Traumbewufitseins, konnen wir doch nicht heute sozusagen die voile 
Entdeckung machen dessen, was Krishna ist. 

Rufen wir uns noch einmal ins Gedachtnis, was ich gestern ge- 
schildert habe. Das gewohnliche alltagliche Bewulksein wollen wir 
als diese untere Region bezeichnen. Dariiber liegt eine Region, die fur 
die Alltaglichkeit unbewufit bleibt, die nur bewufk wird gleichsam in 
einem Scheingebilde, als Maya, als Traumbewufitsein. Wenn wir aber 



in der Art, wie es im vorigen Vortrage dargestellt worden ist, sozu- 
sagen die Traume herausschaffen, die Maya zu tilgen versuchen, dann 
kommen Eindriicke aus einer anderen Welt in diese Region des 
menschlichen Bewufkseins hinein. 

In der Tat mischt sich aber nun fur den Menschen in alle diese 
Erlebnisse, die er hat, alles dasjenige von der physischen Umwelt 
herein, was eben eigentlich wie ein Uberschufi in der Seele anderen, 
inneren, iibersinnlichen Welten angehort, von denen der Mensch nur 
Kenntnis erhalten kann, wenn er eben dieses Bewufitsein entwickelt. 
Da macht der Mensch in der Tat die Erfahrung, die nur derjenige 
als Reminiszenz des taglichen Lebens beschreiben wird, der materia- 
listisch gesinnt ist und als solcher keine Ahnung hat, wie eigentlich 
die Erfahrungen sind, die der Mensch dann macht. Denn die Welt 
schaut eben doch etwas anders aus, als sie aussieht, wenn man nur 
den physischen Plan um sich hat. Man macht die Entdeckung, daft 
man etwas sieht, was man eigentlich in der gewohnlichen Welt nie 
sieht. Wenn man sich auch oftmals denkt, man sehe etwas, die Men- 
schen glauben, sie sehen Licht, in Wahrheit sieht der Mensch ja auf 
dem physischen Plane nicht Licht, sondern er sieht Farben, Farben- 
nuancen, hellere und dunklere Farben, er sieht nur die Wirkung des 
Lichtes, aber Licht selber durchschweift unsichtbar den Raum. Wenn 
der Mensch nur in den Raum, durch den das Licht geht, schaut, so 
sieht er das Licht nicht. Wir konnen uns ja leicht davon iiberzeugen 
durch das ganz grobklotzige Erlebnis, dafi, wenn wir durch ein Fen- 
ster Licht lassen, wir eine Art Strahlenbundel im Zimmer sehen. Aber 
dann mufi eben Staub in der Luft sein. Wir sehen den Widerglanz, 
die Reflexion des Lichtes, aber das Licht sehen wir nicht. Das Licht 
selbst bleibt unsichtbar. Jetzt aber, nach solchen Erfahrungen, be- 
kommt man das Licht wirklich zu sehen, man nimmt es wirklich 
wahr. Das kann man aber erst, wenn man eben in die hoheren Welten 
aufriickt. Dann ist man wirklich von flutendem Licht umgeben, wie 
man in der physischen Welt in flutender Luft ist. Nur kommt man 
nicht mit seinem physischen Leibe herauf, man braucht da oben nicht 
zu atmen, aber mit dem Teil seines Wesens kommt man herauf, wel- 
cher das Licht so braucht, wie der Leib in der physischen Welt die 



Luft braucht. Das Lebenselement ist da oben das Licht, man mochte 
sagen Lichtluft, die dort Bediirfnis des Daseins ist, wie die Luft Be- 
diirfnis des Daseins ist fiir den Menschen der physischen Welt. 
Durchdrungen, durchsetzt wird dieses Licht in der Tat von so etwas, 
wie die Luft in unserem Umkreise durchsetzt ist von Wolkenbildun- 
gen. Die sind aber Wasser. Doch dieses Wasser auf dem physischen 
Plane lafit sich auch mit etwas, was da oben ist, vergleichen. Das- 
jenige, was uns da entgegenkommt wie schwimmende, schwebende 
Gebilde im flutenden Licht, wie hier Wolken durch die flutende 
Luft schweben, das ist webender, lebender Ton, webendes Tongebilde, 
das ist Spharenmusik. Und dasjenige, was man weiter wahrnehmen 
wird, das ist fliefiendes, webendes Leben selber. 

Man kann also schon diese Welt, in die man da eintaucht mit der 
Seele* beschreiben, aber die Dinge, durch die man beschreiben mufi, 
die miissen eigentlich sinnlos sein fiir die physische Welt. Daher wird 
vielleicht derjenige diese Welt, die zwar fiir die physische Vorstellung 
sinnlos ist, darum aber doch eine hohere Wirklichkeit hat, am besten 
beschreiben, der die fiir den physischen Plan sinnlosesten Worte ge- 
brauchen wird. Nun haben es ja selbstverstandlich alle materiellen 
Philisterseelen leicht, zu widerlegen. Deshalb nehmen sich auch diese 
Widerlegungen so plausibel aus, welche die materialistisch Gesinnten 
gegeniiber demjenigen machen, was der Okkultist iiber die hoheren 
Welten zu sagen hat. Er weifi es schon selber, daft diese Widerlegun- 
gen sehr leicht zu machen sind, denn man beschreibt ja die hoheren 
Welten am besten, wenn man Worte gebrauchen mufi, die gar nicht 
passen fiir dasjenige, was der Mensch im Auge hat, wenn man vom 
physischen Plan redet. 

Man mochte zum Beispiel reden von «Lichtluft» oder «Luftlicht». 
Das gibt es nicht auf dem physischen Plan. Da oben aber gibt es 
Luftlicht, Lichtluft. Auch lernt man in der Welt, in die man da hin- 
eindringt, kennen die Abwesenheit des Lebenselementes, der notigen 
Menge von Lichtluft und Luftlicht, dadurch, daft man sich beklom- 
men fiihlt, schmerzlich beriihrt fiihlt in der Seele: ein Zustand, der 
sich vergleichen lafit mit dem Zustand auf dem physischen Plan, 
wenn man aus Luftmangel keinen Atem findet. Und auch den ent- 



gegengesetzten Zustand trifft man dort an, den Zustand wahrer, 
echter, man mochte sagen heiliger Lichtluft, den Zustand, zu leben in 
diesem Reinen, Heiligen, und zu schauen geistige Wesenheiten, die 
sich innerhalb dieser Lichtluft recht gut bemerkbar machen konnen 
und da ihr Wesen treiben. Es sind alle diejenigen Wesenheiten, die 
unter der Fiihrung des Luzifer stehen. In dem Augenblicke, wo wir 
ohne gehorige Vorbereitung in diese Region hineinkommen, durch 
nicht gehorige oder auch nicht ordentliche Vorbereitung, bekommt 
Luzifer die Macht, uns die Lichtluft zu entziehen. Er versetzt uns so- 
zusagen seelisch in Atemnot. Das hat zwar nicht die Wirkung der 
Atemnot auf dem physischen Plane, sondern eine andere Wirkung, 
namlich die, daft wir jetzt, etwa wie ein Eisbar, wenn er nach dem 
Siiden gebracht wird, lechzen nach dem, was uns von dem geistigen 
Schatz, von dem geistigen Licht des physischen Planes kommen kann. 
Das ist namlich gerade das, was Luzifer haben will: daft wir uns nicht 
befassen mit demjenigen, was von den hoheren Hierarchien kommt, 
sondern diirstend hangen an dem, was er in den physischen Plan ge- 
bracht hat, wenn wir durch unsere Vorbereitung uns nicht geniigend 
geschult haben. Stehen wir dann vor Luzifer, dann entzieht er uns das 
Luftlicht, dann bekommen wir seelische Atemnot, dann lechzen wir 
nach dem, was geistig aus dem physischen Plane kommt. 

Wie nimmt sich das aber im Konkreten aus? Nehmen wir an, 
irgend jemand macht Vorbereitungen, die ihn gefuhrt haben dazu, in 
die hoheren Welten wirklich hinaufzukommen, das heiftt, diese obere 
Region wirklich zu erreichen. Aber nehmen wir an, er macht nicht die 
gehorigen Vorbereitungen dazu, vergifit zum Beispiel, daft der 
Mensch neben alien Ubungen zugleich seine moralischen Empfin- 
dungen, seine moralischen Gefiihle veredeln mufi, daft der Mensch 
irdische, ehrgeizige Machtgefuhle aus seiner Seele ausreiften muft - 
man kann in die hoheren Welten hinaufkommen, auch wenn man 
ein ehrgeiziger, eitler, machtliistiger Mensch ist, aber dann tragt 
man irdische Eitelkeit, irdische Machtlust in diese hoheren Welten 
hinauf -, wenn ein Mensch so seine moralischen Empfindungen und 
Gefiihle nicht gelautert hat, dann nimmt ihm oben Luzifer die 
Lichtluft, das Luftlicht. Dann nimmt man nichts wahr da oben von 



dem, was in Wirklichkeit oben ist, dann lechzt man nach dem, 
was unten auf dem physischen Plane ist; man atmet gleichsam das- 
jenige, was man auf dem physischen Plan hat wahrnehmen konnen. 
Man glaubt dann zum Beispiel, man iiberschaue dasjenige, was nur 
auf geistige Weise, eben in der Lichtluft, zu uberschauen ist, nur 
dann zu uberschauen ist, wenn man Luftlicht atmet. Man glaubt, 
verschiedene Inkarnationen verschiedener Menschen zu uberschauen. 
Das ist aber nicht wahr, man uberschaut sie nicht, weil einem eben 
Luftlicht fehlt. Man saugt aber wie lechzend, was unten auf dem 
physischen Plan vorgeht, herauf in diese Region und schildert aller- 
lei Dinge, die man unten auf dem physischen Plan erworben hat, 
wie Vorgange in hoheren Welten. Es gibt sozusagen kein besseres, 
oder besser gesagt, kein schlimmeres Mittel, als mit irdischen, eitlen 
Machtgelusten in die hoheren Welten hinaufzuheben seine Seele. 
Wenn man das aber tut, so wird man niemals wahre Forschungs- 
ergebnisse aus diesen hoheren Welten herunterbringen konnen, son- 
dern was man herunterbringt, wird nur ein Scheinbild dessen sein, 
was man sich auf dem physischen Plan ausgedacht, ausgesonnen hat 
und dergleichen. 

Da habe ich gleichsam nur die allgemeine Szenerie geschildert. 
Aber man begegnet auch Wesenheiten, die man elementarische We- 
senheiten nennen kann. Wahrend man hier in der physischen Welt 
von Naturkraften spricht, bekommen da oben diese Krafte etwas 
Wesenhaftes. Und man macht vor allem da eine ganz bestimmte 
Entdeckung, man macht die Entdeckung - jetzt aber durch die Tat- 
sachen, die einem entgegentreten — : ja, hier auf dem physischen Plan 
gibt es Gutes und Boses, da oben aber gibt es gute und bose Krafte. 
Hier in der physischen Welt ist Gutes und Boses in der Menschen- 
seele gemischt, vereint, bei dem einen mehr, bei dem anderen weni- 
ger nach der guten Seite hin, da oben aber gibt es Wesenheiten, die 
als bose Wesenheiten gegen dasjenige kampfen, was von Wesen- 
heiten, die man gute Wesenheiten nennen mufi, hervorgebracht wird. 
Man kommt da in eine Region hinein, wo man sozusagen das ge- 
steigerte Selbstbewufksein schon brauchen kann, wo man brauchen 
kann eine gescharfte Urteilskraft, die eben mit diesem gesteigerten 



Selbstbewufitsein verbunden sein mufi. So daft man zum Beispiel 
wirklich sich sagen kann: Es miissen da oben auch Wesenheiten sein, 
die sozusagen die Mission des Bosen haben, neben den Wesenheiten, 
die die Mission des Guten haben. 

Auf dem physischen Plane wird einem immer entgegnet: Warum 
hat denn die allweise Weltengottheit nicht blofi das Gute geschaf- 
fen, warum ist denn nicht immer und iiberall nur das Gute vorhan- 
den? - Wenn nur das Gute vorhanden ware, dann wurde die Welt - 
davon iiberzeugt man sich — eine einseitige Richtung nehmen miis- 
sen, dann wiirde die Welt durchaus nicht all die Fiille hervorbrin- 
gen konnen, die sie hervorbringt. Das Gute mufi eine Widerlage 
haben. Gewift, man kann das schon auf dem physischen Plane ein- 
sehen. Aber man lernt erkennen: Nur so lange kann man glauben, 
daft die guten Wesenheiten allein die Welt zu Rande bringen wiir- 
den, solange man auskommt mit der Sentimentalitat, mit der Welt 
der Phantasie. Mit der Sentimentalitat kann man noch in der Region 
des Alltags auskommen, aber nicht, wenn man in die ernsten Reali- 
taten der ubersinnlichen Welt hineinkommt. Da weift man, daft die 
guten Wesenheiten die Welt allein nicht machen konnten, daft sie 
zu schwach waren, um die Welt zu gestalten, daft beigesetzt werden 
miissen der gesamten Evolution diejenigen Krafte, die aus den bosen 
Wesenheiten kommen. Das ist weisheitsvoll, daft das Bose beige- 
mischt ist der Weltenevolution. Daher muft man neben die Dinge, 
die man sich abgewohnt, die man bekampft, auch das Abgewohnen 
einer jeglichen Sentimentalitat setzen. Man mufi erkennen, daft das 
notwendig ist. Unerschrocken und mutig mufi man jenen gefahr- 
lichen Wahrheiten entgegengehen konnen, die man einsieht durch 
das Wahrnehmen des Kampfes, der sich gerade in dieser Region 
abspielt, der einem da offenbart werden kann von seiten der guten 
und bosen Wesenheiten. Das alles sind solche Dinge, die man erlebt, 
wenn man seine Seele geeignet macht, bewuftt in diese Region ein- 
zudringen. Aber dann sind wir eigentlich erst in die Traumregion 
hineingekommen. 

Wir leben aber noch in einer weitaus anderen Region als Men- 
schen, in einer Region, fur die wir als Seelen im normalen Leben so 



wenig geeignet sind, daft wir in ihr iiberhaupt gar nichts wahrneh- 
men konnen. Das ist die Region, die wir als Seelen durchleben im 
traumlosen, tiefen Schlaf, die Region, in die niemals Traume hinein- 
reichen konnen: die Region des gewohnlichen Schlafbewulkseins. 
Hier beginnt schon der absolute Widerspruch, denn der Schlaf ist 
doch eigentlich dadurch charakterisiert, dafi das Bewulksein eben 
vollig aufhort. Schlafbewufitsein, ein vollkommenes Paradoxon, ist 
jener Zustand, in dem wir sind, wenn wir vom Einschlafen bis zum 
Aufwachen leben. Diesen Zustand wollen wir zunachst das Schlaf- 
bewufksein nennen. Dieses Schlafbewufitsein ist fur das normale 
menschliche Leben ja in der Tat so, dafi der Mensch eben aufhort, 
bewufit zu sein, wenn er in dieses Leben hineingeht, und mit dem 
Aufwachen erst wieder bewulk wird. Aber in uralten Zeiten des 
Hellsehens war auch diese Region fur die Menschenseele etwas Er- 
lebbares. Da gab es, wenn wir in diese alten Zeiten unserer Erden- 
entwickelung, sogar noch in nachatlantische Zeiten zuriickgehen, 
durchaus einen Zustand, der fur das gewohnliche Leben dem Schlafe 
gleich war, in welchem aber wahrnehmbar war eine noch hohere, 
noch geistigere Welt, als diejenige ist, die in der Traumregion wahr- 
zunehmen ist. Wir konnen zu solchen Zustanden kommen, die fur 
das gewohnliche menschliche Leben ganz gleich sind dem Schlaf- 
zustande, die aber kein Schlaf sind, weil sie von Bewufksein durch- 
drungen sind. Dann sehen wir, wenn wir so hoch hinaufgekommen 
sind, nicht die physische Welt. Allerdings sehen wir noch die Welt 
der Lichtluft, die Welt der Tone, die Welt der Weltenharmonie, die 
Welt des Kampfes der guten und bosen Wesenheiten. Aber diese 
Welt, die wir da sehen, ist, man mochte sagen, noch verschiedener, 
noch grundverschiedener von allem, was in der physischen Welt be- 
steht. Es ist eine Welt, welche daher noch schwieriger zu beschreiben 
ist als diejenige Welt, die man antrifft, wenn man in die Region des 
Traumbewufkseins kommt. 

Ich mochte Ihnen nun eine Art von Vorstellung geben, wie prak- 
tisch eigentlich das Bewulksein in dieser Region arbeitet, wie es 
wirkt. Wenn man das schildert, woriiber ich Andeutungen gemacht 
habe von einer hohen Welt, in welche Traume hereinragen, da wird 



man von der gewohnlichen Philistrositat als Phantast erklart. Wenn 
man aber gar beginnt, von den Erfahrungen zu sprechen aus dieser 
Region heraus, die sonst der Mensch nur durchschlaft, dann werden 
die Menschen schon nicht mehr nur so gehassig, dafi sie einem Phan- 
tasterei vorwerfen, nein, dann werden sie, wenn sie iiberhaupt sich 
irgend einlassen darauf und keine Bosartigkeit haben, schon ganz 
wild. 

Wir haben ein kleines, oder vielmehr ein grofies Beispiel auf 
diesem Gebiete schon erleben konnen. Wahrend ja zunachst, als in 
Deutschland meine Biicher erschienen sind, die offentliche, sich ge- 
lehrt nennende Kritik selbstverstandlich gehassig und allerlei Dinge 
vermutend diese Biicher beurteilte, wurde die Kritik auf einem 
Punkte wirklich ganz wild, schon bis zu dem Grade wild, dafi man 
sagen kann: Eine gewisse Kritik wird, wenn sie gar zu wild wird, ein- 
fach toricht. Dieser Punkt war ein solcher, wo einmal aufmerksam 
gemacht werden sollte auf etwas, was wirklich nur aus der erwahnten 
Region des Geistes kommen kann. Das war die Sache, die aus- 
gesprochen ist in meinem Buche: «Die geistige Fuhrung des Menschen 
und der Menschheit», die Sache von den zwei Jesusknaben. Fur die- 
jenigen der lieben Freunde, die damit nicht bekannt sind, mochte 
ich wiederholend erwahnen, dafi sich ergab als okkultes Forschungs- 
resultat, dafi geboren wurde im Beginne unserer Zeitrechnung nicht 
nur ein Jesusknabe, sondern zwei. Der eine abstammend aus der 
sogenannten nathanischen Linie des Hauses David, der andere aus 
der sogenannten salomonischen Linie. Diese beiden Jesusknaben 
wuchsen miteinander auf. In dem Leibe des salomonischen Knaben 
lebte die Zarathustraseele, die in dem zwolften Jahre iiberging - 
und das ist etwas tief Bedeutsames - in den anderen Jesusknaben, 
und da bis zum dreifiigsten Jahre dieses Leibes lebte. Sie lebte also 
in dem Leibe, der bis zum zwolften Jahre eingenommen worden 
war von einer geheimnisvollen Seele, bis zum dreifiigsten Jahre 
dieses Leibes. Von dem dreifligsten Jahre an lebte dann in diesem 
Leibe diejenige Wesenheit, die wir die Christuswesenheit nennen, 
solange sie iiberhaupt auf der Erde lebte: drei Jahre. 

Wie gesagt, wild geworden sind diejenigen, die sich iiberhaupt 



von der Aufienwelt her eingelassen haben auf diese Geschichte der 
zwei Jesusknaben. Wir konnen ihnen das ja weiter auch gar nicht 
iibelnehmen, denn die Leute wollen doch naturlich etwas kontrollie- 
ren mit der Wissenschaft, die sie haben. Aber das, was sie kritisieren 
wollen, stammt eben aus einer Region, die sie halt immer verschlafen. 
Deshalb kann man ihnen ja gar nicht iibelnehmen, daft sie davon 
nichts wissen. Allerdings reicht eigentlich die gesunde Vernunft schon 
aus, dies zu begreifen. Aber auf solches Begreifen lassen die Leute 
sich nicht ein, sie wandeln dieses Begreifens Kraft gleich um in 
Wildheit und Gehassigkeit. 

Solche Wahrheiten, wie diese von den zwei Jesusknaben, die eben 
in dieser hoheren Region gefunden werden, entsprechen niemals einer 
Sympathie oder Antipathic Solche Wahrheiten findet man in der 
Tat immer nur in einer solchen Weise, dafi man sie eigentlich als Er- 
fahrung nie macht, wenn ich «machen» dasjenige nennen darf, was 
sozusagen mit der Erkenntnisweise der physischen Welt zu tun hat, 
ja, eigentlich sogar mit der Erkenntnisweise derjenigen Region, in 
welcher das Traumleben ist. Da ist man sozusagen bei der Ent- 
stehung der Erkenntnis dabei, wie man dabei ist bei dem physischen 
Bewufksein. Das gilt auch noch fur denjenigen Okkultisten, der nur 
in diese Traumregion mit seinem Bewufksein hereinragt. So dafi man 
sagen kann: Wenn die Erkenntnisse dieser Region entstehen, ist man 
unmittelbar dabei. In einem solchen Dabeisein lassen sich solche 
Wahrheiten nicht finden, wie diese Wahrheit von den zwei Jesus- 
knaben. Wenn man in der hoheren Region solche Wahrheiten be- 
kommt - und zwar so, daft sie in das Bewufitsein hineinkommen -, 
dann ist der Zeitpunkt, in dem man sie eigentlich erworben hat, 
langst vorbei, wenn man sie erkennt. Man hat sie friiher schon erlebt, 
bevor man ihnen bewufit entgegentritt - und das soil man ja eben in 
unserer Zeit — man hat sie schon in sich. So dafi man zu den wichtig- 
sten, wesenhaftesten, bedeutsamsten Wahrheiten so kommt, dafi man 
das deutliche Bewufitsein in sich tragt: Als man sie erworben hat, war 
man in einem friiheren Zeitpunkte als in dem jetzigen, wo man das, 
was man friiher erworben hat, aus den Tiefen der Seele holt und 
sich bewufit macht. 



Solche Wahrheiten trifft man in sich an, wie man in der Auften- 
welt antrifft eine Blume oder irgendein anderes Ding. Wie man in 
der Aufienwelt denken kann iiber eine Blume oder iiber einen sonsti- 
gen Gegenstand, der eben zunachst einfach da ist, so kann man den- 
ken iiber die Wahrheiten, wenn man sie in sich selbst angetroffen hat, 
wenn sie in einem selbst einem entgegentreten. Wie man in der 
AufSenwelt erst urteilen kann, nachdem man die Wahrnehmung eines 
Gegenstandes vollzogen hat, so findet man auch solche Wahrheiten 
in sich objektiv, und dann erst studiert man sie in sich selbst. Man 
studiert sie in sich selbst, wie man aufiere Tatsachen studiert. Und so 
wenig es einen Sinn hat zu sagen: Diese Blume, ist sie wahr oder 
falsch? -, so wenig hat es einen Sinn, iiber das, was man da eigentlich 
in sich antrifft, zu fragen, ob es wahr oder falsch sei. Die Wahrheit 
oder Falschheit bezieht sich nur darauf, ob man fahig ist, das, was 
man findet, was einem bewufit wird, zu beschreiben. Die Beschrei- 
bung kann wahr oder falsch sein. Wahr sein und falsch sein bezieht 
sich ja nicht auf die Tatsache, sondern darauf, wie irgendein den- 
kendes Wesen sich zu der Tatsache stellt. Auf die Tatsachen sind die 
Worte «wahr» oder «falsch» gar nicht anwendbar. 

Es ist in der Tat das Kommen zu Forschungsergebnissen auf die- 
sem Gebiete ein Hineinschauen in eine Seelenregion, in der man 
vorher auch gelebt hat, in die man nur nicht mit dem Bewufksein 
hineingeschaut hat. Man kann am besten im Fortschreiten okkulter 
Ubungen in diese Region hineinkommen, wenn man geradezu acht 
gibt auf solche Momente, in denen sich in den Tiefen der Seele nicht 
blofi Urteile, sondern Tatsachen ergeben, von denen man weifi, dafi 
man nicht mitgewirkt hat mit dem Bewufitsein an ihrem Entstehen. 
Je mehr man verwundert sein kann iiber dasjenige, was sich da einem 
enthiillt wie ein ganz objektiver Gegenstand der Aufienwelt, je iiber- 
raschender das fur einen ist, desto mehr ist man vorbereitet, in diese 
Region hineinzukommen. Daher ist es in der Regel so, dafi man mit 
alldem, was man sich zusammenkonstruiert hat, was man vermutet, 
nur schlecht in diese Region hineinkommt. Sie haben kein besseres 
Mittel, nichts zu finden, zum Beispiel iiber vorherige Inkarnationen 
dieser oder jener Personlichkeit, als nachzudenken, was diese in den 



vorherigen Inkarnationen gewesen sein konnte. Wenn Sie zum Bei- 
spiel untersuchen wollten, sagen wir, die friiheren Inkarnationen des 
Robespierre, dann ware es das beste Mittel, nichts iiber ihn zu er- 
fahren, wenn Sie historische Personlichkeiten aufsuchten, von denen 
Sie vermuten, dafi sie vorherige Inkarnationen von Robespierre sein 
konnten. Das beste Mittel ware das, um niemals das Richtige zu er- 
fahren. Man mufi sich in energischer Weise abgewohnen, Meinungen, 
Vermutungen, Hypothesen sich zu machen. Immer mehr und mehr 
mufi derjenige, der ein wirklicher Okkultist werden will, sich daran 
gewohnen, moglichst wenig iiber die Welt zu urteilen. Denn dann 
kommt er am schnellsten dazu, daft ihm die Tatsachen entgegenkom- 
men. Je mehr der Mensch sich schweigend in seinen Vermutungen, in 
seiner Meinung verhalt, desto mehr erfiillt sich das Innere seiner 
Seele mit Tatsachen der geistigen Welt. 

Man kann zum Beispiel sagen, dafi derjenige, der in einem be- 
stimmten religiosen Vorurteile aufgewachsen ist, der ganz bestimmte 
Gefuhle und Empfindungen, vielleicht auch Vermutungen iiber den 
Christus hat, nicht sehr geeignet ware, von vornherein solch eine 
Wahrheit zu finden wie die Geschichte von den zwei Jesusknaben. 
Gerade wenn man etwas neutral fiihlt gegeniiber dem Christus-Er- 
eignis, dann ist dies eine gute Vorbereitung, wenn man nur auf der 
andern Seite die anderen notwendigen Vorbereitungen macht. Vor- 
urteilsvolle Buddhisten werden am wenigsten etwas Vernunftiges iiber 
Buddha zu sagen wissen, ebenso wie vorurteilsvolle Christen am 
wenigsten iiber den Christus zu sagen wissen werden. So ist es auf 
alien Gebieten. Man mufi schon einmal gewissermafien alle fur das 
gewohnliche Leben so zu nennenden Bitternisse durchmachen, gleich- 
sam ein doppelter Mensch werden, wenn man in diese Region, die 
jetzt als eine dritte geschildert worden ist, eintreten will. Ein doppel- 
ter Mensch ist man ja auch im gewohnlichen Leben, wenn man auch 
von der einen Halfte seines Seins keinen bewufiten Gebrauch macht. 
Man ist auch im gewohnlichen Leben ja ein wachender und ein 
schlafender Mensch. Wahrhaftig: so verschieden Wachen und Schla- 
fen ist, so verschieden ist diese Region von der physischen Welt, diese 
dritte Region in den hoheren Welten. Diese Region ist etwas Beson- 



deres fur sich. Sie ist auch eine Umwelt, aber eine vollig neue Welt, 
die wir am besten dann erkennen, wenn wir nicht nur dasjenige aus- 
zuloschen vermogen, was die Sinne an Eindriicken der physischen 
Aufienwelt iibermitteln, sondern auch alles das, was wir fiihlen und 
empfinden konnen, wofiir wir uns leidenschaftlich erregen konnen in 
bezug auf Dinge der Sinnenwelt. Im gewohnlichen Leben ist der 
Mensch so wenig geeignet zum Erleben dieser Welt, dafi sein Bewufit- 
sein ausgeloscht wird jede Nacht. Dazu gelangt er nur, wenn er 
imstande ist, wirklich aus sich einen Doppelmenschen zu machen. 
Und derjenige Mensch, der vergessen kann, der ausschalten kann zu- 
nachst alles, was ihn interessiert in dieser physischen Welt, der kann 
dann in diese andere, hohere Welt eindringen. Die mittlere Welt, die 
Welt, in der auch die Traume gewoben werden, sie ist gleichsam 
gemischt aus den beiden anderen Welten. In sie ragen sowohl 
Elemente der hoheren Welt, die der Mensch sonst verschlaft, 
als auch die Elemente des Alltagsbewufitseins. Deshalb kann 
auch niemand die wahren Ursachen der physischen Welt erkennen, 
wenn er nicht in seinem Erkennen einzudringen vermag in diese 
dritte Region. Wenn aber der Mensch durch eigene Erfahrung heute 
die Entdeckung machen will, wer zum Beispiel Krishna ist, so kann 
er das nur in dieser dritten Region. Und jene Eindriicke, die Arjuna 
bekommen hat, und die uns geschildert werden in dem erhabenen 
Sang, in der Bhagavad Gita, dadurch, dafi sie dem Krishna in den 
Mund gelegt werden, sie stammen aus dieser Welt. Daher mufite ich 
heute zunachst vorbereitend sprechen von dem Aufriicken des Men- 
schen in diese dritte Region, damit wir begreiflich finden konnen, 
woher eigentlich die wunderbare und doch grotesk klingende Wahr- 
heit stammt, die Krishna dem Arjuna sagt, und die doch sehr un- 
ahnlich klingt demjenigen, was gewohnlich gehort werden kann. Ken- 
nenzulernen den Krishna und damit den Nerv der Bhagavad Gita, 
das soil die eine Seite dieser Vortrage sein. Auf der anderen Seite 
sollten Sie aber in den okkulten Grundziigen dieses wunderbaren 
Sanges etwas haben, das Sie, wenn Sie es wirklich gebrauchen, auch 
wirklich den Weg in die hoheren Welten finden lassen kann. Denn 
der Weg in die hoheren Welten ist jedem Menschen of fen, wenn er 



nur verstehen will, wie das Kornchen Gold, das man erst haben mull, 
in dem Bewufksein besteht, dafi in das alltagliche Leben Dinge hin- 
einspielen, in denen die hochsten geistigen Wesenheiten leben und 
weben. 



FUNFTER VORTRAG 



Helsingfors, 1. Juni 1913 



Wenn wir in die Ratsel des menschlichen Lebens eindringen wollen, 
dann miissen wir vor alien Dingen auf ein groftes Lebensgesetz unser 
Augenmerk richten: auf das sogenannte zyklische Lebensgesetz. Besser 
als Definitionen sind Charakteristiken. Daher mochte ich auch in die- 
sem Falle nicht eine Definition geben desjenigen, was hier unter dem 
zyklischen Verlauf des Lebens gemeint ist, sondern ich mochte mehr 
charakterisieren. Ich habe ja schon ofter an anderen Orten mich aus- 
gesprochen iiber den geringen Wert von sogenannten Definitionen. 
Sie bleiben doch gegeniiber der Wirklichkeit immer nur etwas Arm- 
seliges. In einer griechischen Philosophengesellschaft versuchte man 
einmal, um sich die Natur der Definition klarzumachen, die Defini- 
tion des Menschen zu geben. Definitionen sollen ja dasjenige, was die 
Erscheinung darbietet, auf Begriffe zuruckfuhren. Es ist nur radikal 
das ausgesprochen, was im Grunde genommen fiir den, der mehr 
logische Einsicht hat, doch eigentlich eine Armseligkeit darbietet. Die 
Leute der griechischen Philosophengesellschaft kamen nun iiberein, 
die Definition zu geben: Der Mensch ist ein Wesen, das zwei Beine 
und keine Federn hat. Das ist ja nun keine besonders geniale Defini- 
tion, aber sie zeigt im Radikalen die Mangel einer jeden Definition. 
Es ist ja nicht zu leugnen, dafi diese Definition, wenn sie auch eine 
Art albernen Ausspruchs darstellt, wirklich das aufiere Wesen des 
Menschen in einer gewissen Beziehung gibt. Am nachsten Tage aber 
brachte jemand einen gerupften Hahn mit und sagte: Das ist also 
nach eurer Definition ein Mensch! - Wirklich ein alberner Aus- 
spruch. Er trifft aber doch im wesentlichen die Armseligkeit alles 
Definierens. Darum wollen wir, wo es sich um Wirklichkeiten han- 
delt, absehen von allem Definieren und wollen vielmehr charakteri- 
sieren. 

Da mochte ich zunachst einen alltaglich bei uns auftretenden, 
ganz gewohnlichen zyklischen Verlauf uns vor die Seele fiihren. Es ist 
der zyklische Verlauf des Schlafens und Wachens. Was bedeutet denn 



eigentlich fur das gewohnliche menschliche Leben Schlafen und Wa- 
chen? Man versteht die Natur des Schlafens erst, wenn man weift, 
daft die innere Seelentatigkeit des Wachens im gegenwartigen Mensch- 
heitszyklus doch eine Art Zerstorung feiner Strukturen des Nerven- 
systems darstellt. Mit jedem Gedanken, mit jedem Willensimpuls, den 
wir auf Anregung der Auftenwelt machen, zerstoren wir wahrend des 
ganzen wachen Lebens feinere Gehirnstrukturen. Wir stehen hier an 
einem Punkt, wo man in der Tat sagen kann, daft es in der nachsten 
Zeit immer mehr und mehr den Menschen klar werden wird, wie der 
Schlaf das wache Tagesleben erganzen mufi; wir stehen vor einem 
Punkte, wo immer mehr und mehr in der nachsten Zeit die Natur- 
wissenschaft, die schon auf dem Wege dazu ist, sich mit der Geistes- 
wissenschaft vereinen wird. Die Naturwissenschaft hat heute schon 
hypothetisch vielfach diese Theorie aufgestellt, daft das wache Tages- 
leben eine Art Zerstorungsprozeft darstellt im Nervensystem, in den 
feineren Strukturen des Gehirns. Weil wir so durch unser waches Ta- 
gesleben Zerstorungsprozesse hervorrufen, mussen wir vom Einschla- 
fen bis zum Aufwachen den entsprechenden anderen, den ausgleichen- 
den Prozeft in uns stattfinden lassen. Und es arbeiten in der Tat 
wahrend unseres Schlafens in uns Krafte, die sonst nicht zutage treten, 
nicht irgendwie bewufit werden. Es arbeiten Krafte an der Wieder- 
herstellung der wahrend des wachen Lebens zerstorten feineren Ner- 
venstrukturen unseres Gehirns. 

Nun wird durch die Zerstorung der feinen Nervenstrukturen ge- 
rade erreicht, daft sich in uns Gedanken und Erkenntnisprozesse ab- 
spielen. Das gewohnliche alltagliche Erkennen ware nicht moglich, 
wenn nicht vom Aufwachen bis zum Einschlafen Zerstorungspro- 
zesse, Abbauprozesse stattfanden. Das Schlafleben bedeutet nun ein 
Wiederherstellen dieser zerstorten Partien. Es findet also eine entge- 
gengesetzte Arbeit an unserem Nervensystem statt: auf der einen 
Seite wahrend des Wachens ein Zerstorungsprozefi, ein Abbauen, auf 
der anderen Seite wahrend des Schlafens ein Aufbauen, ein Wieder- 
herstellungsprozefi. Wahrend des Schlafes bauen Krafte in uns, arbei- 
ten am Aufbau der zerstorten Gehirnstrukturen. Wir werden dadurch 
bewufit, daft der Zerstorungsvorgang sich vollzieht. Wir nehmen 



eigentlich die Zerstorung wahr, unser waches Tagesleben ist die Wahr- 
nehmung von Zerstorungsprozessen. Weil wahrend des Schlafens keine 
Zerstorungsprozesse stattfinden, sondern Reorganisationsprozesse, 
nehmen wir auch wahrend dieses Zustandes nichts wahr. Es wird die 
Kraft, die sonst das Bewufksein erzeugt, verbraucht zum Aufbau. 
Wahrend des Aufbauens wird aber die Kraft nicht wahrgenommen, 
weil wir nur durch Zerstorungsprozesse bewulk werden konnen. Da 
haben wir einen Zyklus. Nehmen wir erst mal dasjenige, was im 
Schlafe geschieht. 

Aufbau: Unbewufitheit, weil die Krafte als Baukrafte verwen- 
det werden; Abbau: Wachen, Bewufitheit, weil die Krafte zerstoren, 
weil die Krafte frei werden, nicht zu bauen brauchen. Das unbe- 
wufite Schlafen und das bewufke Wachen, Aufbauen und Abbauen, 
das ist einer der gewohnlichsten zyklischen Verlaufe des Menschen- 
lebens. Schlafen und Wachen, Bauen und Abbauen, ist ein solcher 
zyklischer Verlauf. Es ist aus diesem Grunde, weil das so ist, so ge- 
fahrlich fur das gesunde menschliche Leben, wenn nicht ein ge- 
horiger Schlaf da ist. Gewifi, das menschliche Leben ist ja so einge- 
richtet, daft diese gefahrlichsten Prozesse nicht sogleich hervortreten, 
weil dasjenige, was im Menschen vorhanden ist, doch von langer 
Zeit her gebildet ist. So daft im Grunde die Prozesse, die heute im 
Menschen verlaufen, wenn sie abnorme, unnormale sind, nicht so 
tief eingreifen konnen in die menschliche Natur, als man eigentlich 
zuerst glauben sollte. Man mufke eigentlich glauben nach allem, was 
gesagt worden ist, dafi ein Mensch, der an Schlaflosigkeit leidet, 
weil er sein Gehirn ja nur zerstoren lafit, in verhaltnismafiig kurzer 
Zeit ganz herunterkommen muflte. Dieses Herunterkommen geschieht 
aber viel weniger schnell, als vorausgesetzt werden miifite. Dafi 
dies so ist, beruht auf demselben Grunde, als warum zum Beispiel bei 
Menschen, die weder sehen noch horen konnen, wie bei Helen Keller, 
dennoch die menschliche Intelligenz ausgebildet werden kann. Das 
miiftte man eigentlich in diesem gegenwartigen Zyklus theoretisch fur 
ganz unmoglich halten, denn die Dinge, die in unserem Gehirn heute 
einen grofien Teil der Intelligenz ausmachen, kommen doch durch 
Auge und Ohr in unser Gehirn hinein. Wenn aber eine Personlich- 



keit, wie die beriihmt gewordene Helen Keller, doch ausbildungs- 
fahig ist, so beruht das darauf, daft sie, wenn sie auch die Tore der 
Sinne geschlossen hat, ein Gehirn geerbt hat, das die Ausbildung 
moglich macht. Wenn der Mensch nicht darinnen stiinde in der Ver- 
erbungslinie, dann konnte eine solche Ausbildung, wie bei Helen 
Keller, durchaus nicht stattfinden. Wenn der Mensch durch die Ver- 
erbung sozusagen sein Gehirn nicht viel gesunder hatte, als man 
gewohnlich anzunehmen geneigt ist, so wiirde Schlaflosigkeit seine 
Gesundheit in ganz kurzer Zeit vollig untergraben. Nun ist aber so 
viel Vererbungskraft im allgemeinen da, dafi Schlaflosigkeit wirklich 
lange arbeiten kann, ehe sie dem Menschen schadet. Deshalb bleibt es 
aber doch richtig, dafi im wesentlichen dieser Zyklus vorhanden ist: 
Aufbau, und daher Bewulklosigkeit im Schlaf, Abbau, und daher 
Bewufitheit wahrend des Wachens. 

Nicht nur solche kleineren Zyklen nehmen wir im gesamten 
menschlichen Leben wahr, sondern auch grofiere zyklische Verlaufe 
nehmen wir wahr. Da mochte ich aufmerksam machen auf einen 
zyklischen Verlauf, auf den ich ja auch schon ofter hingewiesen 
habe. Derjenige, welcher den Verlauf des gesamten menschlichen 
Lebens in westlichen Gegenden verfolgt, der wird bemerken, dafi 
eine ganz bestimmte Konfiguration des geistigen Lebens der Mensch- 
heit da war, sagen wir vom 14., 15., 16. Jahrhundert bis zum letzten 
Drittel des 19. Jahrhunderts. Allerdings sieht man auf die einschla- 
gigen Dinge im gewohnlichen Leben viel zu ungenau und fliichtig 
hin, man betrachtet im allgemeinen das Leben nicht tief genug. 
Wenn man aber griindlich das Leben betrachtet, wird man iiberall 
bemerken konnen, wie seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts 
eine ganz andere Konfiguration des abendlandischen Geisteslebens 
beginnt. Freilich stehen wir mit diesem beginnenden Geistesleben 
erst am Anfang. Daher bemerken es die Menschen nicht in seiner 
ganzen Bedeutsamkeit und Wesenhaftigkeit. Aber denken wir uns, es 
hatte jemand versucht, in den vierziger, funfziger Jahren des 19. 
Jahrhunderts vor einem solchen Auditorium von denselben Dingen 
zu sprechen, von denen ich hier zu Ihnen sprechen darf, denken wir 
uns das einmal. — Wir konnen uns das eben nicht denken, es ware 



ein Unsinn, es ware ganz ausgeschlossen gewesen in den vierziger, 
funfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. So ware es auch ganz 
ausgeschlossen gewesen, von diesen Dingen in dieser Weise zu spre- 
chen in der Zeit vom 14., 15., 16. Jahrhundert bis zum letzten 
Drittel des 19. Jahrhunderts. Das war eben die Zeit, wo das natur- 
wissenschaftliche Denken der Menschen grofi geworden ist, jenes 
Denken, das die groften Erfolge des Materialismus gebracht hat, je- 
nes Denken, an dem die nicht davon loskommenden Naturgelehrten 
noch lange hangen werden. Aber die eigentliche Epoche des Mate- 
rialismus ist vorbei. Und ebenso, wie begonnen hat die Ara des natur- 
wissenschaftlichen Denkens in dem angegebenen Zeitpunkte, ebenso 
beginnt jetzt die Ara des spiritualistischen Denkens der Menschheit. 

Wir leben in der Zeit, in der hart aneinander stofien diese zwei 
scharf voneinander zu unterscheidenden Epochen. Immer mehr wird 
es hervortreten, daft die Art des neuen Denkens erst sich zur Wirk- 
lichkeit zu stellen hat, daft das Denken bei den Menschen ein ganz 
anderes werden wird, als dasjenige der letzten vier Jahrhunderte sein 
muftte, weil die Menschen lernen muftten, naturwissenschaftlich zu 
erkennen. In den letzten vier Jahrhunderten hat es sich darum ge- 
handelt, den Blick des Menschen hinauszuweiten in den Welten- 
raum. Ofter habe ich aufmerksam gemacht auf jenen bedeutsamen 
Moment in der Geistesentwickelung des Abendlandes, als Koperni- 
kus, Galilei, Kepler, Giordano Bruno im Zusammenwirken sozu- 
sagen das blaue Himmelsgewolbe zersprengt haben. Bis dahin 
glaubte man, daft um unsere Erde herumhinge diese blaue Schale. 
Dann traten jene Geister auf, die diese Schale als ein Nichts er- 
klarten und den Blick der Menschen hinauslenkten in unendliche 
Weltenfernen des Raumes. Was war eigentlich das Bedeutsame darin, 
daft, sagen wir, Bruno die Menschen schauen gelehrt hat, den 
Menschen klar gemacht hat, wie dasjenige, was sie als blaue 
Schale sich als Grenze ihres eigenen Sehvermogens gesetzt hatten, 
ein Nichts sei, daft er ihnen sagte: Dies ist nicht wirklich da, er- 
kennt nur, daft ihr diese blaue Schale selbst in den Raum hinaus 
setzt? - Daft es der Anfang war, das war das Bedeutsame. Das 
Ende war die Tatsache im 19. Jahrhundert, als die Menschen lern- 



ten, die stofflichen Zusammensetzungen der fernsten Himmelskorper 
mit dem Spektroskop zu untersuchen. Eine wunderbare Epoche, 
die Epoche des Materialismus! Jetzt stehen wir am Ausgangspunk- 
te einer anderen Epoche. Sie geht aus denselben Gesetzen hervor, 
sie ist aber die Epoche der Spiritualitat. Wie durch Brunos Arbeit 
die naturwissenschaftliche Epoche vorbereitet ist, die blaue Schale 
des Himmelsgewolbes durchbrochen worden ist, so wird in dem Zeit- 
alter, das jetzt beginnt, durchbrochen werden das Zeitenfirmament. 
Die Menschen werden lernen, indem sie das Menschenleben einge- 
schlossen glauben zwischen Geburt und Tod oder Empfangnis und 
Tod, dafi dies Grenzen sind, selbstgemachte Grenzen der menschli- 
chen Seele. Wie friiher die Menschen sich die Grenzen der Sinne 
selbst gemacht hatten als blaue Himmelsschale, wie der Blick damals 
erweitert wurde in die unendlichen Raumesspharen, so werden die 
Zeitgrenzen durchbrochen werden, die zwischen Geburt und Tod 
liegen, und losgelost von Geburt und Tod werden liegen im unend- 
lichen Zeitenmeere die Verwandlungen des Menschenkernes, die 
wir verfolgen in den immer wiederkehrenden Inkarnationen. Ein 
neues Zeitalter beginnt, das Zeitalter des spirituellen Denkens. 

Worauf beruht fur denjenigen, der die okkulten Grundlagen die- 
ser Ubergange von einem Zeitalter zum anderen erkennen kann, 
diese Veranderung des menschlichen Denkens? Das kann keine Philo- 
sophic, keine aufiere Physiologie und Anatomie ohne weiteres nach- 
weisen. Wahr ist es doch. Krafte, welche heute herausgetreten sind 
in die arbeitenden menschlichen Seelen, die heute angewendet wer- 
den innerhalb der menschlichen Seelen, um spirituelle Erkenntnisse 
zu sammeln, dieselben Krafte arbeiteten in den letzten vier Jahr- 
hunderten am menschlichen Organismus als aufbauende Krafte. 
Nehmen wir den ganzen Zeitraum von Kopernikus bis zum letzten 
Drittel des 19. Jahrhunderts: In dieser ganzen Zeit arbeiteten ge- 
heimnisvolle Krafte an der Korperlichkeit, wie im Schlafe die auf- 
bauenden Krafte am Nervensystem arbeiten. Diese aufbauenden 
Krafte, die da arbeiteten am Menschen, stellten eine ganz bestimmte 
Gehirnstruktur her in den besonderen Partien des Gehirns. Die 
abendlandischen Gehirne sind heute anders, als sie vor fiinf Jahr- 



hunderten waren. Heute schaut es unter der Schadeldecke nicht so 
aus wie vor fiinf bis sechs Jahrhunderten. Da hat sich ein feines Or- 
gan gebildet, da arbeiteten Krafte, die ein Organ bildeten, das vor- 
her nicht da war. Wenn das aufierlich auch nicht bewiesen zu wer- 
den vermag, wahr ist es doch. Wahr ist es, dafi unter der Stirnbil- 
dung des Menschen sich ausgebildet hat ein feines Organ. Da arbei- 
teten Krafte unter der menschlichen Stirn, arbeiteten durch einen 
vier Jahrhunderte dauernden Zyklus hindurch. Diese Krafte haben 
wahrend dieses vier Jahrhunderte dauernden Zyklus ihre Aufgabe 
als aufbauende Krafte erfullt. Heute ist nun das Organ da, wenig- 
stens bei den meisten abendlandischen Menschen. Es wird immer 
mehr und mehr da sein in den nachsten Jahrhunderten, in dem Zy- 
klus, welchem wir jetzt entgegengehen. Das Organ ist aufgebaut, die 
Krafte werden frei. Und mit denselben Kraften wird die Menschheit 
des Abendlandes spirituelle Erkenntnisse sich erwerben. Da haben 
wir die okkulte physiologische Grundlage dessen, um was es sich 
handelt. Wir beginnen heute zu arbeiten mit den Kraften, welche 
die Menschen nicht gebrauchen konnten in den letzten vier Jahrhun- 
derten. Da waren diese Krafte beschaftigt damit, dasjenige aufzu- 
bauen, was bereitet werden muike, damit spirituelles Erkennen Platz 
greifen konnte in der Welt. 

So konnen wir uns einen Menschen denken, sagen wir, des 17. 
Jahrhunderts oder des 18. Jahrhunderts: Der steht so vor uns, dafi 
wir wissen, dafi hinter seiner Stirn gewisse okkulte Krafte arbeiten, 
die sein Gehirn umformen. Diese Krafte waren immer an diesen Par- 
tien am Werke bei den westlandischen Menschen. Nehmen wir nun 
an, es ware einem Menschen gelungen - und das kann gelingen -, 
einmal diese Krafte im 17. oder 18. Jahrhundert aufzuhalten, sie 
nicht arbeiten zu lassen: dann ware dasselbe bei ihm eingetreten - 
und es ist auch eingetreten -, was eintritt bei einem Menschen, der 
mitten im Schlafe die Krafte, die sonst am Aufbau der Gehirnstruk- 
tur arbeiten, aufhalt, der diese Krafte spielen lalk, ohne dafi sie in 
diesem Momente aufbauen. Man kann das, man kann Momente er- 
leben, wo man aus dem Schlafe heraus wie aufwacht, und doch 
nicht aufwacht, wo man regungslos bleibt, die Glieder nicht bewe- 



gen kann, wo keine Wahrnehmung von aufien stattfindet, und 
doch Wachzustand ist. Da arbeitet dasjenige, was sonst an dem 
weiteren Aufbau arbeitet. Das arbeitet nun nicht an dem Aufbau, 
sondern arbeitet frei, spielt frei. Das sind die Momente, wo wir die 
sonst an unser Gehirn verbrauchten Krafte zum Hellsehen gebrau- 
chen konnen. Das sind die Momente, wo wir, wie im Schlaf re- 
gungslos bleiben, Einblicke gewinnen konnen in die geistigen Wel- 
ten. So war es aber auch, wenn ein Mensch des 17. oder 18. Jahr- 
hunderts gleichsam einstellte die aufbauende Tatigkeit dieser auf- 
bauenden Krafte. Dann liefi er diese Krafte fur einen Moment 
nicht arbeiten, dann wurde er fur einen Moment hellsichtig. Was 
sah er denn da? Was nahm er dann wahr? Er sah, was da im Ge- 
hirn arbeitete aus den geistigen Welten herein, die Krafte, welche 
die Menschen etwa vom 15. Jahrhundert an bis in das 19. Jahrhun- 
dert hinein dazu vorbereiteten, dafi diese Menschen vom 20. Jahr- 
hundert ab sich in die spirituellen Welten erheben konnen. Verein- 
zelte Menschen hat es immer gegeben, die solche Erfahrungen hat- 
ten. Solche Erfahrungen waren gewaltig bestiirzend, weil sie unge- 
heuer eindrucksvoll waren. Es hat immer Menschen gegeben, wel- 
che fur Momente in demjenigen lebten, was hereinarbeitete aus der 
iibersinnlichen Welt in die sinnliche, um in dieser etwas hervorzu- 
bringen, was in friiheren Menschheitszyklen nicht da war, namlich 
dieses feinere Organ in der Stirnhohle. Gotter, geistige Wesen bei 
ihrer Arbeit am Aufbau des menschlichen Organismus nahmen 
solche Menschen wahr, die in der geschilderten Weise hellsichtig 
wurden. 

Wir charakterisieren damit zugleich die Hellsichtigkeit von einer 
besonderen Seite her. Wir konnen ja auch dadurch, daft wir die in 
dem Buch «Wie erlangt man Erkenntnisse der hoheren Welten?» ge- 
gebenen Ubungen anwenden, solche Momente im Schlafe herbeifuh- 
ren. Wir konnen dann Einblicke haben in das geistige Leben in der 
Art, wie sie geschildert ist in meinem Buche «Ein Weg zur Selbst- 
erkenntnis des Menschen ». 

Es kann also in einem Menschheitszyklus, wo dasjenige frei 
wird, was da vorbereitend arbeitet fur die Zukunft, es kann also 



innerhalb eines solchen Zyklus das, was die Zukunft vorbereitet, 
sichtbar werden dem hellsichtigen Blick. Wir bezeichnen das auch 
mit einem anderen Namen - denn Namen sagen ja nichts -, es ware 
ebensogut, wir bezeichneten jene Krafte, welche da gearbeitet haben 
durch vier Jahrhunderte hindurch an dem feinen Umbau der 
menschlichen Gehirnstruktur, als die Kraft des Gabriel. Wir sagen 
Gabriel, aber es kommt nur darauf an, dafi man fur einen Moment 
Einblick erhalt in die iibersinnlichen Welten. Man bekommt den 
Einblick auf eine geistige Wesenheit, die aus der iibersinnlichen Welt 
heraus an dem menschlichen Organismus arbeitet. Wir sprechen also 
von einer Summe von Kraften, die aber dirigiert werden von einer 
Wesenheit aus der Hierarchie der Archangeloi, Gabriel. Wir sagen 
daher: An dem menschlichen Organismus hat gearbeitet vom 15. 
Jahrhundert bis zum letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die Ga- 
brielkraft. Und weil da eine spirituelle Kraft im besonderen am 
Physischen gearbeitet hat, so schlief das Verstandnis fur das Spiritu- 
elle dazumal, und dieses Schlafen des Verstandnisses fur das Spiritu- 
elle brachte die grofien Triumphe der Naturwissenschaft hervor. 
Jetzt aber ist diese Kraft erwacht. Das Spirituelle hat gearbeitet. Es 
beginnt das spirituelle Zeitalter, nachdem die Krafte frei geworden 
sind, die wir die Gabrielkrafte nennen, nachdem wir diese Krafte, 
die Seelenkrafte geworden sind, gebrauchen konnen, die friiher un- 
ter der Schadeldecke am physischen Aufbau eines Organs gearbeitet 
haben. 

Da haben wir einen etwas bedeutungsvolleren zyklischen Verlauf 
als denjenigen von Tag und Nacht, von Wachen und Schlafen. Es 
gibt aber noch viel bedeutendere zyklische Verlaufe in der Mensch- 
heitsevolution. So konnen wir hinweisen darauf, dafi jenes mensch- 
liche Selbstbewufitsein, das gerade jetzt in diesem Zyklus unserer 
nachatlantischen Zeit den ganzen Stolz der Menschheit bildet, sich 
erst nach und nach ausbilden mufite. Das war ja friiher nicht da. 
Man spricht heme viel von Entwickelung, aber man macht selten 
ganz ernst mit der Entwickelung. 

Wie naiv die Menschen sind in bezug auf dasjenige, was sie 
eigentlich umgibt, dariiber kann man manchmal sehr eigenartige Er- 



fahningen machen. Die Menschen lassen eben vieles in aller Naivitat 
aus dem Unterbewufitsein heraufspielen und entschliefien sich schwer, 
wirklich bewufk dasjenige, was an Kraften aus unbekannten Wei ten 
in die bekannten hereinspielt, den ubersinnlichen Welten zuzuschrei- 
ben. Gerade in den letzten Tagen ist mir wieder ein sonderbares Bei- 
spiel sozusagen einer auf halbem Wege stehenbleibenden Logik ent- 
gegengetreten. Man mufi schon sagen, man begreift die Widerstande, 
die der anthroposophischen Weltanschauung entgegentreten, wenn 
man weifi, dafi notwendig zum Verstandnis der Anthroposophie ein 
ganz besonderes Denken ist, bei dem man nicht auf halbem Wege 
mit irgendeinem Gedanken stehenbleiben darf. Da ist nun innerhalb 
Deutschlands ein Freidenkerkalender erschienen, zum erstenmal im 
vorigen Jahre. Darin wendet sich ein durchaus ehrlicher Mensch da- 
gegen, den Kindern religiose Begriffe beizubringen. Er fuhrt aus, dafi 
dies eigentlich gegen die Natur des Kindes spreche. Er habe beob- 
achtet, dafi, wenn man Kinder frei aufwachsen liefie, sie keine reli- 
giosen Begriffe entwickelten. Also ware es unnaturlich, diese Begriffe 
in die Kinder hineinzupfropfen. Man kann nun ganz iiberzeugt sein, 
dafi dieser Kalender an Hunderte von Menschen geht und dafi diese 
meinen verstehen zu konnen, wie es eigentlich Unsinn sei, religiose 
Begriffe den Kindern beizubringen. Solche Dinge gibt es heute mas- 
senhaft, denn die Leute merken gar nicht mehr die Unlogik. Man 
braucht ja nur zu erwidern, dafi, weil Kinder, die durch irgendeinen 
Umstand, sagen wir, auf einer Insel allein gelebt haben, nicht spre- 
chen lernten, man die Kinder iiberhaupt nicht sprechen lehren sollte. 
Das ware genau dieselbe Logik. Allerdings werden sich die Leute 
darauf nicht einlassen, daft dies dieselbe Logik sei, die sie doch so 
ungeheuer geistreich finden im ersten Fall. Niedlich ist es, wenn man 
solch eine Erfahrung macht, man mochte sagen, auf dem groften 
Horizonte des heutigen aufieren Lebens, das nur noch ganz ein Nach- 
spiel, ein Auslaufen des materialistischen Zeitalters darstellt. 

Da gibt es sehr bemerkenswerte Aufsatze, die in der letzten Zeit 
erschienen sind, von dem Prasidenten der Vereinigten Staaten Nord- 
amerikas, Woodrow Wilson. Da gibt es einen Aufsatz iiber die Ge- 
setze des menschlichen Fortschritts. Darin wird wirklich recht nett 



und sogar geistreich ausgefiihrt, wie die Menschen eigentlich beeinflufit 
werden von dem, was das tonangebende Denken ihres Zeitalters gibt. 
Und sehr geistreich fiihrt er aus, wie in dem Zeitalter Newtons, wo 
alles voll war von den Gedanken iiber die Schwerkraft, man in die 
gesellschaftlichen Begriffe, ja, in die Staatsbegriffe nachwirken fiihlte 
die Newtonschen Theorien, die in Wirklichkeit nur auf die Welten- 
korper patten. Die Gedanken iiber die Schwerkraft im besonderen 
fiihlt man in allem nachwirken. Das ist wirklich sehr geistreich, denn 
man braucht nur nachzulesen den Newtonismus, und man wird sehen, 
dafi iiberall Worte gepragt werden wie: Anziehen und Abstofien und 
so weiter. Das hebt Wilson wirklich sehr geistvoll hervor. Er sagt, 
wie ungeniigend es sei, rein mechanische Begriffe anzuwenden auf 
das menschliche Leben, Begriffe von der Himmelsmechanik anzu- 
wenden auf die menschlichen Verhaltnisse, indem er zeigt, wie das 
menschliche Leben damals geradezu wie eingebettet war in diese Be- 
griffe, wie diese Begriffe iiberall auf das staatliche und soziale Leben 
Einflufi gehabt haben. Es riigt Wilson mit Recht diese Anwendung 
rein mechanischer Gesetze in dem Zeitalter, in dem sozusagen der 
Newtonismus das ganze Denken unter sein Joch gespannt hat. Man 
muft anders denken, sagt Wilson, und konstruiert jetzt seinen Staats- 
begriff. Und zwar so, dafi nun iiberall, nachdem er dies von dem 
Zeitalter des Newtonismus nachgewiesen hat, bei ihm der Darwinis- 
mus herausguckt. Ja, er ist so naiv, das sogar zu gestehen. Er ist so 
naiv zu sagen: Die Newtonschen Begriffe haben nicht ausgereicht, 
man mufi die darwinistischen Gesetze des Organismus anwenden. Da 
haben wir ein lebendiges Beispiel, wie man mit halber Logik heute 
durch die Welt schreitet. Die Gesetze reichen eben nicht mehr aus, 
die rein aus dem Organismus entspringen. Man braucht seelische und 
geistige Gesetze heute. 

Es ist ja so, dafi man begreifen kann, wie sich von alien Seiten 
Widerspriiche auftiirmen gegen die anthroposophische Weltanschau- 
ung, weil diese eben ein durchdringendes Denken, eine iiberall ein- 
dringende Logik braucht. Das ist aber eben auch das Gute der anthro- 
posophischen Weltanschauung, dafi sie ihre Anhanger zwingt, ordent- 
lich zu denken. So miissen wir die Entwickelung im geistigen Sinne 



denken, und nicht in dem darwinistischen Sinne Wilsons. Es raufi 
uns klar sein, daft dasjenige, was jetzt das wesentliche Charakteristi- 
kon des Menschen ausmacht, das Selbstbewufitsein, das Stehen auf 
dem Ich, sich auch erst nach und nach entwickelt hat. Nun muftte 
das aber ebenso vorbereitet werden, wie unser spirituelles Denken 
vorbereitet worden ist in den letzten vier Jahrhunderten. Es mufiten 
geistige Krafte aus den iibersinnlichen Welten heraus arbeiten, um 
auszubilden, was spater im Selbstbewufttsein des Menschen zum Aus- 
druck gekommen ist. Wir konnen sprechen von einem Einschnitt in 
der menschlichen Entwickelung, einem vorhergehenden und einem 
nachherfolgenden Zeitalter. Das nachfolgende sei dasjenige, in dem 
langsam und allmahlich das Selbstbewufitsein im Menschen auftritt. 
Wir wollen es nennen das Zeitalter des Selbstbewufkseins. 

Dem aber geht voran in zyklischer Abwechslung ein Zeitalter, in 
dem erst das Organ des Selbstbewufltseins aus iibersinnlichen Kraften 
in den Menschen hineingebaut worden ist. Es geht voran das Zeit- 
alter, in dem Geistesmachte den Menschen organisch vorbereiteten, 
das Selbstbewulksein zu haben. Das heilk, dasjenige, was im Selbst- 
bewufitsein seelisch arbeitet, das arbeitete in jenem vorhergehenden 
Zeitalter unsichtbar und unerkennbar im Inneren der Menschennatur. 
Der Einschnitt, der Verbindungspunkt dieser beiden groften Zeitalter, 
ist ein wichtiger Einschnitt in der menschlichen Entwickelung. Vor der 
Epoche, die diesem Einschnitt folgt, war das Selbstbewufksein bei den 
meisten Menschen uberhaupt nicht vorhanden, bei den fortgeschritte- 
nen Menschen verhaltnismafiig schwach. Damals dachten die Men- 
schen nicht so wie heute, dafi sie bei einem Gedanken wufiten: Ich 
denke diesen Gedanken. - Sondern die Gedanken traten auf wie le- 
bendige Traume. Auch die Willensimpulse und die Gefiihle traten 
nicht so ins Bewufitsein wie heute, sondern es trat im Menschen et- 
was auf, was wie instinktiv im Menschen lebte. Selbstbewufksein 
durchdrang noch nicht das Seelenleben. Aber es arbeiteten an der 
menschlichen Organisation, an der menschlichen Natur vom Geiste 
aus diejenigen Wesenheiten, die den Menschen vorbereiteten, spater 
fahig zu sein, das Selbstbewufitsein von sich aus zu haben. Ganz an- 
ders mufiten die Menschen sich verhalten vor der Epoche des Selbst- 



bewufitseins als in der Epoche des Selbstbewufitseins, wie auch das 
aufiere Erfahren sich ganz verschieden darstellt vom 15. bis zum 20. 
Jahrhundert nach Christus, als es spater sein wird. 

Wie wir alle westlandischen Kulturen so verlaufen sehen, dafi die 
aufieren Gesetze der materiellen Wirkungsart gefunden und praktisch 
angewendet werden, und wie dann hinzutreten wird spirituelles Wis- 
sen, spirituelles Verstandnis, so war bis zu dem Zekalter, in dem das 
Selbstbewufitsein eintrat in die Seele, alles, was vorbereiten konnte 
dieses Selbstbewufitsein, in das menschliche Leben eingeflossen. Da 
waren die Menschen eingeteilt in strenge Kasten in der Gegend, in 
welcher das Selbstbewufitsein zunachst auftreten sollte. Und die Men- 
schen achteten diese Kasten. Derjenige, der in einer niedrigen Kaste 
geboren war, empfand es als hochstes Ziel, in dieser Kaste sich so zu 
verhalten, dafi er in spateren Verkorperungen hinauf sich zu heben 
vermochte. Ein machtiger Ansporn der menschlichen Seelenent- 
wickelung war diese Kasteneinteilung. Denn die Menschen wufiten, 
dafi sie durch Entwickelung der inneren Seelenkrafte sich geeignet 
machten, in einer nachsten Verkorperung in eine hohere Kaste aufzu- 
steigen. Und zu den Ahnen schaute man auf und sah in ihnen das- 
jenige, was nicht an einen physischen Leib gebunden ist. Ehrwiirdig 
waren den Menschen die Ahnen, weil sie schon gestorben waren, und 
ubriggeblieben war das Manenhafte, das Geistige, das geistig nach 
dem Tode von der hoheren Welt aus wirkte. Das war eine gute Vor- 
bereitung auf das grofie Ziel in der menschlichen Natur, dasjenige zu 
sehen im Ahnenkult, was jetzt schon in uns lebt, und nicht an den 
physischen Leib gebunden ist, die selbstbewufite Seele, die mit dem 
Tode durch die Pforte des Todes in die geistigen Welten geht. So, 
wie durch vier Jahrhunderte die beste Erziehung zur Spiritualitat 
jene Erziehung war, welche die Menschen zum naturwissenschaft- 
lichen Denken gezwungen hat, so war es die beste Erziehung damals, 
eine hohe Achtung den Menschen einzuflofien fur die Kaste und fiir 
die Vorfahren. Das war eine wunderbare Vorbereitung fiir die Ent- 
wickelung des Selbstbewufitseins. Der Mensch stand in seiner Kaste 
darin und entwickelte einen ganz besonderen Hang zur Kastenein- 
teilung. Gerade an der Pietat gegenuber der Kaste und gegeniiber 



den Ahnen hatte der Mensch etwas, was ungeheuer hineinwirkte in 
sein Leben. Kasteneinteilung und Ahnenverehrung wirkten tief ein 
auf das menschliche Leben. Da arbeiteten geistige Wesenheiten hinein 
in dieses aufiere menschliche Leben, wie es in den Kasten und in der 
Verehrung der Ahnen verlief. Das war dasjenige, was vorbereitete die 
Moglichkeit, dafi der Mensch in Zukunft bei jedem Gedanken sagen 
konnte: Ich denke; bei jedem Gefiihl: Ich fiihle; und bei jedem Wil- 
lensimpuls: Ich will. - Das Selbstbewufitsein wurde vorbereitet in 
der vorhergehenden Epoche, in welcher eben das Selbstbewufitsein 
nicht da war, aber von Gottern aus der menschlichen Natur heraus- 
gearbeitet worden ist. 

Nehmen wir nun an: Gegen das Ende dieses Zeitraumes tritt bei 
einem Menschen wie durch einen machtigen Schock eine augenblick- 
liche Einstellung alles dessen ein, was ihn bindet an die Krafte, die 
eben geschildert worden sind, an die Krafte der vorhergehenden 
Epoche. Dann war es bei lhm so, wie es sonst fur uns 1m Schlafe 
ist, wenn wir fur einen Moment die Krafte des Aufbauens heraus- 
ziehen und hellsichtig werden, oder wie es ja auch bei dem Men- 
schen des 18. Jahrhunderts war, wenn er aufhalten konnte die Krafte, 
die damals wirkten an der Gehirnstruktur. So konnte damals ein 
Mensch, wenn er einen Moment sein Verstandnis gegeniiber der 
Ahnenverehrung, gegeniiber den Opferfeuern zuriickzog, er konnte, 
indem er einen Schock empfand, dann die Krafte, die er sonst fur 
dieses Verstandnis verwendete, fur einen Augenblick dazu verwen- 
den, einen Blick hineinzutun in die iibersinnlichen Welten, konnte 
sehen, wie aus der geistigen Welt heraus gearbeitet wurde an der Vor- 
bereitung des Selbstbewufkseins des Menschen. Das tat Arjuna in 
dem Augenblick, da er eben im Kampf den Schock bekam. Da stan- 
den still die Krafte in ihm, die sonst aufbauende Krafte waren, da 
konnte er einen Blick tun auf die gottliche Wesenheit, welche die 
Krafte des Selbstbewufitseins vorbereitete, und diese Gottheit war 
eben Krishna. Was ist uns dadurch Krishna? Krishna ist diejenige 
Wesenheit in der Menschheitsevolution, die spirituell vorbereitend 
gearbeitet hat durch Jahrhunderte und aber Jahrhunderte hindurch 
an der Organisation der Menschennatur, die den Menschen fahig 



machte, vom 7., 8. Jahrhunderte vor Begriindung des Christentums 
an, allmahlich in das Zeitalter des Selbstbewufitseins einzutreten. 
Wie erscheint da Krishna, der Baumeister der menschlichen Egoitat, 
der Baumeister des menschlichen Selbstbewufitseins? Sprechen 
mufi er vor Arjuna in Worten, die ganz durchtrankt und durchdrungen 
sind von Selbstbewufitsein. So verstehen wir Krishna von einer ande- 
ren Seite her als den gottlichen Baumeister an demjenigen, was das 
Selbstbewufitsein im Menschen vorbereitet und es herbeigefuhrt hat. 
Und wie ein Mensch unter besonderen Verhaltnissen dieses Bau- 
meisters ansichtig werden konnte, das stellt uns eben die Bhagavad 
Gita dar. Das ist eine Seite der Krishna-Natur. Eine andere Seite der 
Krishna-Natur werden wir dann in den nachsten Vortragen noch 
kennenlernen. 



SECHSTER VORTRAG 



Helsingfors, 2. Juni 1913 

Es ist im Grande genommen aufterordentlich schwierig, inner- 
halb der abendlandischen Kultur iiber eine solche Erscheinung zu 
sprechen, wie sie die Bhagavad Gita ist. Es ist aus dem Grunde 
schwierig, weil in unserer Gegenwart in weitesten Kreisen noch et- 
was herrscht, was ein grundgesundes Urteil auf diesem Gebiete aufter- 
ordentlich erschwert. Es herrscht innerhalb der abendlandischen Kul- 
tur die Sehnsucht, alles dasjenige, was an die menschliche Seele heran- 
dringt wie die Bhagavad Gita, aufzufassen im Sinne einer Lehre, 
einer Art Philosophic Man geht gern an solche Schopfungen des 
Menschengeistes vor alien Dingen vom ideellen, vielleicht sogar vom 
begriffsmaftigen Standpunkte heran. 

Es wird damit etwas beriihrt, was in unserer heutigen Zeit iiber- 
haupt schwierig macht, die groften historischen Impulse in der Ent- 
wickelungsgeschichte der Menschheit richtig zu beurteilen. Wie oft 
wird zum Beispiel heute darauf hingewiesen, daft man in den Evan- 
gelien als die Lehren des Christus etwa dies oder jenes finde, und 
dann wird gezeigt, daft diese Tiefen der Lehren des Christus Jesus 
sich auch schon friiher finden da oder dort. Dann wird gesagt: Seht 
ihr, das ist doch dasselbe! - Es ist nicht einmal unrichtig, daft es das- 
selbe ist, denn man kann in unzahligen Fallen nachweisen, daft die 
Lehren der Evangelien sich in friiheren menschlichen Geisteswerken 
finden; und man kann nicht sagen, daft, wenn jemand die Behaup- 
tung aufstellt, es finde sich diese oder jene Lehre da oder dort, er 
irgend etwas Unrichtiges behaupte. 

Und dennoch: Obwohl das, was so gesagt wird, nicht unrichtig 
ist, ist es gegeniiber einer wirklich eindringenden Betrachtung der 
menschlichen Evolution ein Unsinn. Und es wird sich das menschli- 
che Geistesleben erst daran gewohnen mussen, zu erkennen, daft etwas 
ganz richtig und doch ein Unsinn sein kann. Erst wenn man diesen 
Satz nicht mehr als einen Widerspruch ansehen wird, wird man ge- 
wisse Dinge unbefangen beurteilen konnen. Man wird es unbefangen 



beurteilen konnen, wenn jemand sagt, er sehe in der Bhagavad Gita 
in einer gewissen Beziehung eine der allergrofken Schdpfungen des 
menschlichen Geistes innerhalb der Erdenevolution, er sehe in der 
Bhagavad Gita in einer gewissen Beziehung eine Schopfung des Men- 
schengeistes, die spater iiberhaupt nicht mehr uberholt worden ist. 
Und wenn dieses jemand sagt und daneben sagt, trotzdem stelle das- 
jenige, was mit der christlichen Verkiindigung, mit der Verkiindigung 
des Christus-Impulses in die Welt getreten ist, etwas durchaus an- 
deres dar, etwas, was von der Bhagavad Gita, wenn man ihre 
Schonheit, ihre Grofie noch ins hundertfaltige erhdht denken konnte, 
nicht erreicht werden konnte, so ist das kein Widerspruch. Wenn 
jemand auf der einen Seite das eine sagt und auf der anderen Seite 
dieses letztere, so kann das vom heutigen abstrakten Denken als 
Widerspruch empfunden werden, und dennoch ist es keineswegs ein 
Widerspruch. 

Ja, man kann noch weiter gehen. Man kann einmal fragen: 
Wann ist das Grofite ausgesprochen worden, was gelten kann als 
Impuls fur das menschliche Selbst, fur das menschliche Ich, um dieses 
menschhche Ich innerhalb der Menschheitsevolution in die Welt hin- 
einzustellen? Was ist das Bedeutsamste an Kraft? Wann ist das Ge- 
waltigste geschehen fur dieses menschliche Ich? - Das ist damals ge- 
schehen, als Krishna zu Arjuna gesprochen hat, als die gewaltigsten, 
bedeutsamsten, einschneidendsten und feurigsten Worte an das Ohr 
Arjunas drangen, um das menschliche Ich, das Selbstbewufksein zu 
beleben. Im ganzen Umfange der Welt kann nichts gefunden werden, 
was kraftvoller fur das menschliche Ich an Anfeuerung war als das- 
jenige, was an lebendigster Kraft in den Worten des Krishna an 
Arjuna zu finden ist. 

Allerdings mussen diese Worte nicht so genommen werden, wie 
man sie oftmals im Abendlande nimmt, wo man den grofken und 
schonsten Worten eine Art blofier abstrakter philosophischer Bedeu- 
tung gibt. Mit solcher Bedeutung trifft man das Wesentlichste der 
Bhagavad Gita iiberhaupt nicht. Daher haben abendlandische Ge- 
lehrte diese Bhagavad Gita so furchtbar mifihandelt, maltratiert 
gerade in unserer Zeit. Hat man doch sogar einen Streit inszenieren 



konnen, ob in der Bhagavad Gita mehr die Sankhyaphilosophie oder 
irgendeine andere Ideenrichtung zur Geltung komme! Ja, es hat sich 
sogar ein sehr bedeutender Gelehrter gefunden, der in seiner Ausgabe 
der Bhagavad Gita gewisse Verse klein gedruckt hat, weil er der An- 
sicht ist, dafi man diese geradezu herauskorrigieren miiflte, da sie 
durch ein Versehen hineingekommen sein miiftten. Er glaubt, daft nur 
das in die Bhagavad Gita gehore, was entspricht der Sankhya- oder 
hochstens der Yogaphilosophie. Man darf aber sagen, dafi von der 
Art, wie man heute von Philosophic spricht, iiberhaupt keine Philo- 
sophic in der Bhagavad Gita zu suchen ist. Man konnte hochstens 
sagen: Es haben sich im alten Indien aus gewissen Grundstimmungen 
der menschlichen Seele heraus philosophische Richtungen herausge- 
bildet. Aber diese haben wahrlich mit der Bhagavad Gita jedenfalls 
nicht das zu tun, dafi man sie als eine Interpretation, als einen Kom- 
mentar der Bhagavad Gita ansehen darf. 

Man tut dem morgenlandischen Geistesleben iiberhaupt unrecht, 
wenn man es zusammenbringt mit demjenigen, was das Abendland 
als Philosophic kennt. Denn in diesem Sinne, wie das Abendland die 
Philosophic hat, gab es im Morgenlande eine Philosophic gar nicht. 
In dieser Beziehung wird der Geist der Zeit, der jetzt eigentlich erst 
im Anfang steht - wir haben gestern schon von einem Verhaltnis ge- 
sprochen, das sozusagen die Menschenseelen noch zu lernen haben -, 
der Geist der Zeit wird noch mifiverstanden. Vor alien Dingen miissen 
wir festhalten konnen an jener Anschauung, die wenigstens aus dem 
gestrigen Vortrage zu gewinnen moglich war, welche uns gezeigt hat, 
wie die menschliche Seele unter gewissen Voraussetzungen ganz real, 
der Tatsache nach, gegeniibertreten kann jener Wesenheit, die wir 
gestern von einer Seite aus zu charakterisieren versuchten als den 
Krishna. Weit wichtiger ist es, daft man weifi: Unter gewissen Vor- 
aussetzungen tritt die Arjunaseele demjenigen Geiste gegenxiber, der 
vorbereitet hat das Zeitalter des Selbstbewulkseins. Es steht die 
Arjunaseele diesem Geiste gegeniiber, der mit dieser gewaltigen 
Schopferkraft in der Welt wirkt. - Das ist viel wichtiger als aller 
Streit, ob Sankhya- oder Vedenphilosophie in der Bhagavad Gita zu 
finden ist. Dafi lebendige Wesenheiten sich uns gegeniiberstellen, die 



reale Schilderung der Weltenverhaltnisse und des Zeitkolorits, das ist 
dasjenige, worauf es ankommt. Und diese zu charakterisieren, haben 
wir versucht, indem wir auf der einen Seite uns zu zeigen bemuhten, 
welchem Zeitalter ein solches Denken und Fuhlen, wie es Arjuna be- 
sitzt, angehoren kann; auf der anderen Seite, indem wir zu verstehen 
versuchten das Zeitalter des Selbstbewufitseins selber; und fernerhin 
auch indem wir zeigen konnten, welcher schopferische vorbereitende 
Geist der Arjunaseele hat erscheinen konnen. Nun handelt es sich 
vor alien Dingen darum, dafi wenn wir also in lebendiger Weise We- 
sen dem Wesen gegeniiberstellen, wir mehr brauchen als eine blofi 
einseitige Charakteristik. Wir brauchen zunachst eine gewisse All- 
seitigkeit, damit wir diese Wesenheit noch genauer kennenlernen 
konnen. Diese Allseitigkeit wird sich uns durch die folgenden Be- 
trachtungen bieten konnen. 

Wenn wir mit unserer Seele wirklich in diejenigen Regionen her- 
aufdringen, in denen man eine solche Gestalt wahrnehmen kann, wie 
sie der Krishna ist, dann mu£ diese unsere Seele so weit sein, dafi sie 
zunachst wirkliche Wahrnehmungen, wirkliche Erlebnisse in iiber- 
sinnlichen Welten haben kann. Scheinbar sage ich damit etwas ganz 
Selbstverstandliches. Und doch angesichts dessen, was die Menschen 
meistens von den hoheren Welten erwarten, ist die Sache durchaus 
nicht so selbstverstandlich. Ich habe immer wieder darauf aufmerk- 
sam gemacht, dafi Mifiverstandnis iiber Mifiverstandnis dadurch ent- 
steht, dafi der Mensch mit einer ganzen Summe von Vorurteilen in 
die iibersinnlichen Welten sich hinaufleben will: Er will zwar in das 
Ubersinnliche gefuhrt werden, aber zu etwas, was er von der Sinnen- 
welt her schon kennt. Er will Gestalten dort wahrnehmen, wenn 
auch nicht in derber Materie, so doch Gestalten, die ihm in einer Art 
Lichthiille entgegentreten; er findet, dafi er Tone horen miisse, ahn- 
lich den Tonen der physischen Welt. Er begreift gar nicht, dafi er, 
wenn er so etwas erwartet, mit Vorurteilen in die iibersinnlichen 
Welten hinaufsteigt: denn er will ja die ubersinnliche Welt so haben, 
dafi sie, wenn auch verfeinert, im Grunde doch so ist wie die Sinnen- 
welt. Licht und Farbe oder wenigstens Farbe und Helligkeit, daran 
ist der Mensch gewohnt in der Sinnenwelt. So meint er, er komme 



eigentlich nur zu wirklichen Realitaten in den iibersinnlichen Welten, 
wenn ihm die Wesenheiten der hoheren Welt auch so entgegentreten. 
Nun sollte man das eigentlich gar nicht zu sagen brauchen, denn es 
sind doch die Wesen der iibersinnlichen Welten nun einmal iiber alles 
Sinnliche erhaben, sie stellen sich nun einmal nicht in ihrer wahren 
Gestalt dar in sinnlichen Eigenschaften, denn sinnliche Eigenschaften 
setzen Auge, Ohr, Sinnesorgane iiberhaupt voraus. In den hoheren 
Welten wird aber doch nicht mit Sinnesorganen wahrgenommen, 
sondern mit Seelenorganen. Aber dann kann etwas eintreten, das so 
ist, dafi ich es eigentlich nur in einer sehr trivialen Weise, mochte ich 
sagen, interpretieren, auslegen kann. Nehmen wir einmal an, ich be- 
schreibe Ihnen irgend etwas zunachst mit Worten, und dann habe ich 
noch das Bedurfnis, was ich Ihnen beschrieben habe, mit einigen 
Strichen auf die Tafel zu zeichnen. Dadurch versinnliche ich das, 
was ich mit Worten ausgesprochen habe. Niemandem wird es ein- 
fallen, die Zeichnung fiir die entsprechende Realitat zu halten. Denn 
nehmen wir an, ich wollte Ihnen einen Berg beschreiben. Ich be- 
schreibe Ihnen diesen Berg nun so, dafi ich sage: Es ist merkwurdig, 
dafi es irgendwo einen Berg gibt, der dreifach gipfelt in die Liifte 
hinauf. - Sie konnen sich ja nun eine Vorstellung machen dadurch, 
dafi ich Ihnen das blofi sage, aber ich kann dennoch das Bedurfnis 
fiihlen, Ihnen dasjenige, was ich sagte, auf die Tafel sinnfallig oder 
schematisch zu zeichnen. Da wird es doch niemandem einfallen zu 
sagen: Da haben wir doch das, was er beschrieben hat, da. - Das habe 
ich doch nur versinnlicht. So ist es auch, wenn man dasjenige, was 
als ubersinnliches Erlebnis erfahren wird, ausdriickt, indem man ihm 
Gestalt, Farbe gibt und es in Worte pragt, die aus der Sinnenwelt 
genommen sind. Nur macht man das nicht mit dem gewohnlichen 
Intellekt, sondern es macht ein hoheres Empfinden unserer Seele 
diese ganze Prozedur. Es lebt sich zum Beispiel unsere Seele in un- 
sichtbare Welten ein, sagen wir in die unsichtbare Welt der Krishna- 
Wesenheit. Dann fiihlt sie das Bedurfnis, diese Krishna- Wesenheit vor 
sich hinzustellen. Was sie da vor sich hinstellt, ist aber gar nicht die 
Krishna- Wesenheit selber, sondern eine Zeichnung, eine ubersinnliche 
Zeichnung. Imaginationen sind solche Zeichnungen, solche, man 



mochte sagen, iibersinnliche Versinnlichungen. Und das Mifiverstand- 
nis, das so haufig entsteht, ist, dafi man dasjenige, was die hoheren 
Seelenkrafte hinmalen, und was man auch mit Worten beschreiben 
kann, versinnlicht, wodurch es fur das Wesen der Sache genommen 
wird. Das ist nicht das Wesen der Sache, sondern es mufi durch dieses 
hindurch das Wesen der Sache zunachst erahnt und nach und nach 
erst erschaut werden. 

Nun habe ich schon im zweiten Vortrage davon gesprochen, daft 
die Bhagavad Gita neben alien ubrigen Eigenschaften auch noch die- 
se hat, dafi sie eine wunderbare, dramatische Komposition aufweist. 
Ich habe die dramatische Komposition der vier ersten Gesange 
darzustellen versucht, aber diese dramatische Steigerung geht her- 
auf, von Gesang zu Gesang, indem wir weiter kommen, weiter 
in die Gebiete des okkulten Anschauens hinein. Und es mufi 
auch aufierlich ein gewisses gesundes Urteil iiber die kiinstleri- 
sche Komposition der Bhagavad Gita hervorrufen, wenn wir uns 
fragen: Ist vielleicht in der Bhagavad Gita auch ein Mittelpunkt 
vorhanden, ein Mittelpunkt der Steigerung? Die Bhagavad Gita hat 
achtzehn Gesange, der neunte konnte also ein Mittelpunkt der Stei- 
gerung sein. Nun lesen wir im neunten Gesange, gerade also in der 
Mitte, die merkwurdigen Worte, die pragnant zum Ausdruck kom- 
men: Und nun sage ich, nachdem ich dir alles mitgeteilt habe, nun 
sage ich hier das Geheimste fur die menschliche Seele. - Fiirwahr, in 
diesem Moment ein wunderbares Wort, das scheinbar abstrakt klingt, 
aber tief bedeutsam ist. Und dann das Geheimste: Verstehe! Ich bin 
in alien Wesen, sie aber sind nicht in mir. - Ja, so wie die Menschen 
einmal sind, so fragen die Menschen sehr haufig: Was sagt eine wahre 
Mystik, ein wahrer Okkultismus? - Die Menschen wollen absolute 
Wahrheiten haben, die gibt es aber nicht. Es gibt nur Wahrheiten, die 
aus irgendeiner Situation richtig sind, die unter irgendwelchen Um- 
standen und Bedingungen wahr sind. Das mussen sie dann aber auch 
sein. Es kann nicht ein absolut richtiger Satz sein: Ich bin in alien 
Wesen, aber sie sind nicht in mir. - Aber es ist der Satz, der als die 
tiefste Krishna- Weisheit in dieser Situation, in der Krishna dem Ar- 
juna damals gegeniiberstand, gesagt wird, und er gilt — nicht abstrakt, 



sondern real gesprochen - von jenem Krishna, welcher der Schopfer 
ist des menschlichen Innern, des menschlichen Selbstbewufkseins. Und 
in einer wunderbaren Steigerung werden wir bis in die Mitte der 
Bhagavad Gita gefuhrt, an welcher Stelle diese Worte uns zustromen. 
Im neunten Gesang werden sie zu Arjuna gesprochen, und im elften 
Gesang, bald danach, tritt noch etwas anderes ein. 

Was konnen wir denn da erwarten, wenn wir die kunstlerische 
Steigerung der Bhagavad Gita kennen und die okkulten Wahrheiten 
in ihr? Zunachst ist in Worten, die kiinstlerisch gesteigert sind, das 
Tiefste zu fiihlen, das Tiefste zu ahnen. Arjuna ist von Krishna ge- 
fuhrt worden bis zu einem bestimmten Punkt. Aber wenn man den 
neunten und zehnten Gesang nimmt, also gerade die Mitte der 
Bhagavad Gita, da bemerkt man etwas sehr Eigentumliches, namlich 
eine gewisse Schwierigkeit, die Vorstellungen, die gegeben werden, 
sich wirklich vorzustellen, fur die Seele aufzurufen. Versuchen Sie 
emmal, gerade diesen neunten oder zehnten Gesang auf Ihre Seele 
wirken zu lassen. 

Wenn Sie von dem ersten Gesang herkommen, wird Ihre Seele 
gleichsam getragen von der fortwahrenden kiinstlerischen Steigerung. 
Zunachst wird gesprochen von der Unsterblichkeit, dann wird Ihre 
Empfindung gesteigert durch die Vorstellungen, die durch Yoga er- 
weckt werden, fur den sich die Seele begeistert. Dann aber schwingt 
Ihre Seele gleichsam mit ihrem Fiihlen in etwas, was ihr noch ver- 
traut sein kann. Wir werden noch weiter gefuhrt. Es wird in wunder- 
barer Steigerung hinzugenommen die Vorstellung von dem Erreger 
der Epoche des menschlichen Selbstbewufitseins. Da konnen wir ent- 
flammt werden fur die Gestalt, die in die Menschheit das Selbstbe- 
wufitsein gebracht hat. Wir leben durchaus noch in konkreten, der 
Seele vertrauten Gefiihlen und Empfindungen. 

Dann geht die Steigerung noch weiter hinauf. Geschildert wird, 
wie die Seele immer freier und freier werden kann von dem aufieren 
Leiblichen, geschildert wird eine Anschauung, dem Inder sehr ver- 
traut, dafi die Seele sich in sich zuriickziehen kann, die Taten wie un- 
geschehen lassen kann, die der Leib erlebt, daft die Seele in sich ge- 
schlossen werden kann und allmahlich sich Yoga erwirbt, allmahlich 



zu dem Einssein mit dem Brahman kommt. Da sehen wir in den fol- 
genden Gesangen die Bestimmtheit der Empfindung, jenes Fiihlen, 
das noch vom alltaglichen Leben Nahrung bekommen kann, allmah- 
lich schwinden. 

Und in sozusagen schwindelnde Hohen unbestimmter Erlebnisse 
steigt die Seele hinauf, indem es gegen den neunten Gesang zu geht. 
Und wenn man jetzt dem neunten und zehnten Gesang gegeniiber 
auskommen will mit Vorstellungen, die herangezogen sind am ge- 
wohnlichen Leben, dann kommt man eben nicht aus, Es ist tatsachlich 
so, wenn man an den neunten, zehnten Gesang kommt, dafi man fuhlt: 
Da stehe ich wie auf einem Gipfel einer Menschheitsleistung, die aus 
dem Okkulten herausgeboren ist, wofiir zu Hilfe genommen werden 
mufi dasjenige, was die sich entwickelnde Seele selber erst leisten 
mufi, wenn Verstandnis da sein soli. 

Es ist sehr merkwiirdig, wie fein in dieser Beziehung die Bhaga- 
vad Gita komponiert ist. Wir konnen bis zum funften, sechsten, sie- 
benten Gesang kommen, wenn wir die Begriffe ausbilden, die wir 
schon im ersten Gesang empfangen. Im zweiten Gesang wird in der 
Menschenseele das Verstandnis aufgerufen fur das Ewige im Wechsel 
der Erscheinungen. Dann wird bald angereiht dasjenige, was in die 
Tiefen des Yoga sich verliert. Das trifft man vom dritten Gesang an. 
Dann aber mischt sich eine ganz neue Stimmung hinein in die Bhaga- 
vad Gita. Wahrend wir in den ersten Gesangen immer verstandes- 
mafiige Stimmung haben, etwas, das uns manchmal an die abend- 
landischen philosophischen Stimmungen erinnert, setzt jetzt etwas 
ein, wozu, wenn wir es verstehen wollen, Andacht, Yogaverstandnis 
gebraucht wird. Andachtige Stimmung brauchen wir. Wenn wir 
diese andachtige Stimmung immer mehr und mehr zum Erhabenen 
hinauflautern, immer andachtiger und andachtiger in der Seele wer- 
den, dann tragt uns nicht mehr dasjenige, was in den ersten Ge- 
sangen Yoga wird - das bricht ab -, dann tragt uns eine ganz be- 
sondere Stimmung in den neunten, zehnten Gesang hinauf. Denn die 
Worte, die da an unser Ohr tonen, bleiben uns ein trockenes, leeres 
Schellengelaute, wenn wir ihnen mit dem Verstande nahen. Warme 
geben sie, Warme strahlen sie aus, wenn wir ihnen mit Andacht 



nahen. Derjenige, der die Bhagavad Gita verstehen will, der mag von 
Verstand und Vernunft seinen Ausgangspunkt nehmen und die ersten 
Gesange verfolgen, aber aufleben muft im weiteren Verlauf in seinem 
Gemiit andachtige Stimmung, wenn er hinaufkommt bis zum neunten 
Gesang, wo wie ein wunderbarer Klang die Worte des erhabenen 
Krishna in seiner Seele wiederklingen. Wer an den neunten Gesang 
herantritt, der mag dann empfinden ein Gefiihl der Andacht, wie 
wenn er sich die Schuhe ausziehen miisse, bevor er dieses Heiligtum 
betritt, denn er fiihlt, er betritt heiligen Boden, auf dem er wandeln 
soil in andachtiger Stimmung. Und dann kommt der elfte Gesang. 
Was kann nun folgen, wenn wir sozusagen die Kulmination der an- 
dachtigen Stimmung erreicht haben? Was wird das nachste sein? 

Wenn der Mensch hinaufgestiegen ist bis zu dem Gipfel, auf den 
Krishna den Arjuna gefuhrt hat, den man entweder nur im okkulten 
Schauen oder in ehrfurchtig andachtiger Stimmung erreichen kann, 
dann kann nun eintreten das heilige Gestaltenlose, das Ubersinn- 
liche. Das Ubersinnliche kann in die Imagination ergossen werden. 
Dann kann die gesteigerte erhdhte Seelenkraft, die nicht mehr der 
Vernunft angehort, sondern der imaginativen Erkenntnis, die Bilder 
entwerfen desjenigen, was eigentlich gestaltenlos, bildlos in seiner 
Wesenheit ist. Und das geschieht in der Bhagavad Gita, nachdem wir 
hinauf gefuhrt sind bis zu jenem heiligen Boden, vor welchem wir die 
Schuhe ausziehen: das geschieht gleich im Anfange der zweiten Halfte 
des heiligen Sanges, etwa im elften Gesang. Da wird, nachdem es ent- 
sprechend eingeleitet und vorbereitet ist, die Krishna- Weisheit, zu der 
Arjuna von Stufe zu Stufe hingefuhrt worden ist, in Imaginationen 
vor seine Seele gezaubert. Und die Grofie der Darstellung in diesem 
morgenlandischen Gedicht tritt uns eigentlich da ganz besonders ent- 
gegen, wo Krishna, nachdem in seine Nahe Arjuna gebracht worden 
ist, im Bilde, in der Imagination auftritt. Man darf wohl sagen: 
Erlebnisse solcher Art, Erlebnisse, die so von einer innersten Kraft der 
menschlichen Seele erlebt werden miissen, sind eigentlich in einer so 
bedeutsamen Schilderungsweise kaum sonst noch gegeben worden. 
Und fur denjenigen, der empfinden kann, wird die Imagination, die 
nun Arjuna von Krishna beschreibt, immer tief und bedeutungsvoll 



sein. Das ist das Wunderbare in der Komposition der Bhagavad Gita, 
dafi wir sozusagen durch Krishna wie durch ein inspirierendes We- 
sen hinaufgefuhrt werden bis zum zehnten Gesang, und daft da die 
Schauensseligkeit des Arjuna nun in Aktion tritt. Da wird Arjuna 
zum Beschreiber. Und er beschreibt seine Imagination so, dafi man 
sich scheut, nachzubilden, was da gesagt ist. 

«Die Gotter schau ich all in deinem Leib, o Gott; so auch die 
Scharen aller Wesen: Brahman, den Herrn, auf seinem Lotussitz, die 
Rishis alle und die Himmelsschlangen. Mit vielen Armen, Leibern, 
Miindern, Augen seh' ich dich alluberall, endlos gestaltet. Nicht Ende, 
nicht Mitte und auch Anfang nicht seh' ich an dir, o Herr des Alls. 
Du, der du in alien Formen mir erscheinst, der du mir erscheinst mit 
Diadem, mit Keule und mit Schwert, ein Berg in Flammen, nach alien 
Seiten strahlend: so sen' ich dich. Geblendet wird mein Schauen, wie 
strahlend Feuer in der Sonne Glanz und unermeftlich groft. Das Un- 
vergangliche, das hochste zu Erkennende, das grofite Gut, so er- 
scheinst du mir, im weiten All. Des ewigen Rechtes ewiger Wachter, 
das bist du. Als ewiger Urgeist stehst du vor meiner Seele. Nicht 
Anfang, nicht Mitte, nicht Ende zeigst du mir. Unendlich bist du 
iiberall, unendlich an Kraft, unendlich an Raumesweiten. Wie der 
Mond, ja wie die Sonne selbst grofl sind deine Augen, und aus 
deinem Munde strahlt es wie von Opferfeuer. Ich schaue dich an in 
deiner Glut, wie deine Glut das All erwarmt; was ich ahnen kann 
zwischen dem Erdboden und den Himmelsweiten, deine Kraft er- 
fiillt dies alles mit dir allein. Und jede Himmelswelt, alle die drei 
Weiten beben, wenn deine wundersame Schauergestalt sich ihrem 
Blicke zeigt. Ich schau', wie ganze Scharen von Gottern zu dir treten, 
die dir lobsingen, und furchtsam steh' ich da vor dir, die Hande 
faltend. Heil ruft vor dir aller Seher Schar und aller Seligen Schar. 
Sie preisen dich mit all ihrem Lobgesang. Es preisen dich die Adityas, 
Rudras, Vasus, Sadhyas, Vishvas, Ashvin, Maruts und Manen, Gan- 
dharvas, Yakshas, Siddhas, Asuras, und alle Seligen, die schauen empor 
zu dir voll Staunen: ein Leib, so riesenhaft, mit vielen Miindern, 
vielen Armen, vielen Beinen, vielen Fiifien, vielen Leibern, vielen 
Rachen voller Zahne. Vor all dem erbebt die Welt und ich auch 



bebe. Den Himmelerschiitternden, Strahligen, Vielarmigen, mit offe- 
nem Mund, mit groften Flammenaugen. Schau' ich dich so, dann 
zittert meine Seek. Nicht finde ich Festigkeit, nicht Ruhe, o grofter 
Krishna, der mir Vishnu selber ist. Ich schaue wie in dein drauen- 
des Inneres, ich schau' es, wie es ist dem Feuer gleich, so wie es wirken 
wird, einst am Ende aller Zeiten. Ich schau' dich in einer Art, wie ich 
nicht wissen kann von irgend etwas. Oh, sei mir gnadig, Herr der 
Gotter, der Welten wohnlich Haus.» 

Das ist die Imagination, so wie Arjuna sie schaut, nachdem seine 
Seele eben bis zu jener Hohe hinaufgehoben worden ist, auf der eine 
Imagination von Krishna moglich ist. Und dann horen wir dasjenige, 
was Krishna ist, wiederum wie eine machtige Inspiration an Arjuna 
heranklingen. Horen wir sie uns an. Sie ist wahrhaftig so, wie wenn 
sie nicht bloft an das seelisch-geistige Ohr des Arjuna klange, sondern 
hinklange iiber all die folgenden Zeiten des folgenden Weltenalters. 
Wir ahnen jetzt mehr an dieser Stelle, wir ahnen, was es eigentlich 
heifit: einem Zeitalter, einem Weltenalter wird ein neuer Impuls 
gegeben, und der Schopfer dieses Impulses erscheint vor dem hell- 
sehenden Auge des Arjuna. Wir empfinden mit Arjuna selber. Wir 
erinnern uns, daft Arjuna mitten im Kampfgewiihl steht, wo Bruder- 
blut mit Bruderblut kampfen soil. Wir wissen, daft dasjenige, was 
Krishna zu geben hat, vor allem darauf beruht, daft diese Epoche 
des Hellsehens mit all dem Heiligen, das in ihr war, aufhorte, und 
daft eine neue Epoche beginnen sollte. Und wenn wir den Impuls be- 
denken der neuen Epoche, die mit dem Brudermord beginnen sollte, 
wenn wir in richtiger Weise den Impuls verstehen, der hineindrang 
in all die wankenden Begriffe und Einrichtungen der vorhergehen- 
den Epoche, dann fassen wir dasjenige, was Krishna in Arjuna er- 
klingen laftt, richtig auf. 

«Ich bin die Urzeit, die alle Welt vernichtet. Erschienen bin ich, 
Menschen fortzuraffen. Und ob du auch ihnen im Kampfe den Tod 
bringen wirst, auch ohne dich sind dem Tode verfallen all die Kamp- 
fer, die dort in Reihen stehen. Erhebe dich furchtlos. Ruhm sollst 
du erwerben, den Feind besiegen. Frohlocke ob des winkenden Sieges 
und der Herrschaft. Nicht du wirst sie getotet haben, wenn sie hin- 



fallen im Schlachtentod. Durch mich sind sie alle schon getotet, be- 
vor du ihnen den Tod bringen kannst. Du sei nur Werkzeug, du sei 
nur Kampfer mit der Hand! Den Drona, den Jayadratha, den Bhishma, 
den Kama und die anderen Kampfeshelden, die ich getotet, die tot 
schon sind, nun tote du sie, dafi mein Wirken im Schein nach auften 
sich entlade. Wenn sie tot hinfallen in Maya, von mir getotet, tote du 
sie. Und das, was ich getan, wird scheinbar durch dich geschehen 
sein. Zittre nicht! Du vermagst nichts zu tun, was ich nicht schon 
getan. Kampfe! Sie werden fallen durch dein Schwert, die ich ge- 
totet habe.» 

Nicht um an die Menschheit heranzubringen diejenige Stimme, 
die sprechen soil vom Toten, werden diese Worte gesagt, sondern 
um an die Menschheit heranzubringen die Stimme, die davon spricht, 
dafi es in der menschlichen Wesenhek em Zentrum gibt, welches her- 
auszukommen hat in jenem dem Krishna folgenden Zeitalter, und 
daE in dieses Zentrum hereindringen die Impulse, die zunachst fur 
den Menschen die hochsten erreichbaren sind, dafi es nichts gibt in 
der Menschheitsevolution, was nicht mit etwas zusammenhangt, mit 
dem das menschliche Ich auch zusammenhangt. So erst wird uns die 
Bhagavad Gita etwas, das uns unmittelbar hinaufhebt, erhebt zu dem 
Horizont der ganzen Menschheitsevolution. Und es hat derjenige, 
der diese wechselnden Stimmungen aus der Bhagavad Gita auf sich 
wirken lafit, viel mehr als derjenige, der etwa schulmeisterliche Leh- 
ren iiber Sankhya oder Yoga sich von der Bhagavad Gita erteilen 
lassen will. Wenn man zu gehen vermag bis zum neunten, zehnten 
Gesang, wenn man eine Ahnung bekommt von den schwindelnden 
Hohen, zu denen der Yoga fiihrt, dann wird man beginnen, den 
Sinn und Geist einer solchen Imagination zu fassen, wie sie in jener 
gewaltigen Schauung des Arjuna uns entgegentritt, die schon als Ver- 
sinnlichung so grofi und gewaltig ist, dafi wir eine hinlanglich hohe, 
ahnende Erkenntnis gewinnen konnen von der Macht und Erhaben- 
heit des Schopfergeistes, der mit Krishna in die Welt eingegriffen 
hat. Was zum einzelnen Menschen als Hochstes sprechen kann, das 
spricht in Krishna zu Arjuna. Und wozu sich der einzelne Mensch 
aufschwingen kann, wenn er die Krafte, die in seinem Inneren vor- 



handen sind, zu einem Hochsten erhebt, dem Hochsten, wozu sich 
die einzelne Menschenseele erziehen kann, wenn sie im besten Sinne 
an sich arbeitet: das ist der Krishna. 

Wenn wir die Menschheitsevolution iiber die Erde hin denkend 
verfolgen, zeigt sich uns klar aus der allgemeinen Evolutionsweltan- 
schauung, etwa wie sie in der «Geheimwissenschaft» versucht wurde, 
dafi in diesem Sinne die Erde iiberhaupt der Schauplatz ist, auf wel- 
chem der Mensch zum Ich gebracht worden ist, indem alle moglichen 
Stadien von Epoche zu Epoche sich gestalteten, aufeinanderfolgten. 
Wenn man so die Evolution verfolgt von Zeitalter zu Zeitalter, dann 
sagt man sich: Da sind sie nun hinverpflanzt worden auf die Erde, 
diese Menschenseelen: das Hochste, was sie erringen sollen, das ist, 
freie Seelen zu werden. Freie Seelen werden die Menschen, wenn sie 
alle Krafte, die nur in der Menschenseele als einzelne Seele erreicht 
werden konnen, zur Entfaltung bringen. Aber damit sie das konnen, 
wirkte der Krishna zuerst andeutend, dann immer mehr und mehr, 
und dann direkt in derjenigen Epoche der Menschheitsevolution, die 
der Selbstbewufkseinsepoche vorangegangen ist. 

Innerhalb der Erdenevolution gibt es kein einziges Wesen, das der 
einzelnen Menschenseele soviel geben konnte wie der Krishna. Aber 
eben der einzelnen menschlichen Seele. Jetzt sage ich in aller Gelas- 
senheit ein Wort, in aller Gelassenheit, wenn ich es gegeniibersetze 
all der Schilderung, die ich vom Krishna zu geben versuchte: Aufler 
der einzelnen Menschenseele gibt es auf der Erde die Menschheit. 
Auf der Erde gibt es aufier der einzelnen Menschenseele auch eben 
alle diejenigen Angelegenheiten, die nicht einer einzelnen Menschen- 
seele angehoren. Man kann sich vorstellen, dafi eine Menschenseele 
in sich den Impuls fiihlt: Ich will so weit kommen mit meiner Ver- 
vollkommnung, als eine Menschenseele nur kommen kann. - Dieses 
Streben konnte bestehen. Dann wurde sich die einzelne Menschen- 
seele, eine jede in ihrer Isoliertheit, zunachst undefinierbar weit ent- 
wickeln. Aber es gibt eine Menschheit. Es gibt Angelegenheiten fur 
den Erdenplaneten, durch welche dieser Erdenplanet zusammenhangt 
mit der gesamten Welt. Nehmen wir an, es ware an die einzelne 
Menschenseele herangekommen der Krishna-Impuls. Was ware also 



geschehen? Es ware ja nicht dazumal, vielleicht auch nicht bis heute, 
aber im Laufe der Erdenevolution geschehen, daft jede einzelne Seele 
in sich einen hoheren Impuls entwickelt hatte, so dafi der Strom 
der Menschheitsevolution, der gemeinsamen Entwickelung sich geteilt 
hatte vom Zeitalter des Selbstbewufitseins an. Es ware geschehen, 
dafi die einzelnen menschlichen Seelen vorgeriickt waren zu hochster 
Entfaltung, aber auch in Trennung, Zerstiebung. Die Wege der Men- 
schenseelen waren immer weiter und weiter auseinandergegangen, in- 
dem in jeder einzelnen der Krishna-Impuls lebendig gewirkt hatte. 
Jene Erhohung des Menschendaseins ware geschehen, daft aus dem 
gemeinsamen Strome sich die einzelnen Seelen herausindividualisiert 
hatten, die Selbstheit zu hochster Entfaltung gebracht hatten. Man 
mochte sagen: Wie ein einzelner Stern hatte in vielen, vielen Strahlen 
hineingeleuchtet in die Zukunft die alte Zeit. Die alte Zeit hatte 
viele Einzelstrahlen hineingesendet in die neue Zeit, und jeder dieser 
Strahlen hatte die Herrlichkeit des Krishna herausposaunt in das Zu- 
kunftsweltenzeitalter. Auf diesem Wege war die Menschheit in den 
sechs bis acht Jahrhunderten, die der Begriindung des Christentums 
vorangegangen sind. Da kam von der entgegengesetzten Seite etwas 
anderes heran. 

Woher ist der Krishna-Impuls gekommen? Der Krishna-Impuls 
kommt in die Menschenseele, wenn diese von innen heraus immer 
tiefer aus ihrer eigenen Wesenheit schafft und schopft, wenn sie 
immer mehr herausschopft, um heraufsteigen zu konnen in diejeni- 
gen Regionen, wo der Krishna erreicht wird. Dann kam aber etwas, 
was von aufien an die Menschheit herankam, was die Menschen nie- 
mals aus sich selber hatten erreichen konnen, was von der anderen 
Seite entgegenkam, zu jeder einzelnen sich neigend. So trafen die 
sich vereinzelnden Seelen auf eine gemeinsame Wesenheit, die von 
auften, aus dem Universum, aus dem Kosmos entgegenkam dem 
Zeitalter des Selbstbewufttseins als etwas, was jetzt nicht so herankam, 
daft man es durch die Einzelarbeit erreichen kann, was so herankam, 
daft es der gesamten Menschheit angehorte, der gesamten Erde. Von der 
entgegengesetzten Seite ist das andere herangekommen: der Christus- 
Impuls. 



So sehen wir zunachst in einer mehr abstrakten Form, wie vor- 
bereitet ist in der Menschheit eine Individualisierung, die immer mehr 
in die Individualisierung hineingehen sollte, und wie entgegenkam 
den sich individuell machen wollenden Seelen der Christus-Impuls, 
der diese Seelen wieder zusammenfuhrte zu einer Gesamtmenschheit. 
Dasjenige, was ich heute ausfiihren wollte, war zunachst etwas wie 
eine abstrakte Bestimmung, eine abstrakte Charakteristik der beiden 
Impulse, des Krishna- und des Christus-Impulses. Ich versuchte zu 
zeigen, wie diese zwei Impulse in dem Zeitalter der mittleren Mensch- 
heitsentwickelung nahe aneinanderliegen, wie sie aber von entgegen- 
gesetzten Seiten herkommen. Man kann daher etwas sehr Unrichtiges 
sagen, wenn man die beiden Offenbarungswelten, die Krishna- Welt 
auf der einen Seite, die Christus-Welt auf der anderen, miteinander 
verwechselt. Dasjenige, was ich auseinandergesetzt habe in einer 
mehr abstrakten Form, wollen wir zu mehr konkreter Form in den 
nachsten Vortragen fiihren. Die heutige Betrachtung aber mochte ich 
mit einem einfachen Worte schliefien, welches einfach und schlicht 
geben soli den Extrakt desjenigen, was eigentlich die fur die Mensch- 
heitsevolution wichtigsten Impulse sind. Wenn wir den Blick wenden 
zu dem, was zwischen dem 10. Jahrhundert vor dem Christus-Im- 
puls und dem 10. Jahrhundert nach demselben geschehen ist, so 
konnen wir das wie in einem Extrakt in die Worte drangen: Es er- 
flofi der Welt der Krishna-Impuls fur jede einzelne Menschenseele, 
und es erflofi der Erde der Christus-Impuls fiir die ganze Mensch- 
heit. - Hierbei ist zu beachten, daft die ganze Menschheit fiir den- 
jenigen, der konkret denken kann, nicht etwa die Summe von alien 
einzelnen Menschenseelen ist. 



SIEBENTER VORTRAG 
Helsingfors, 3, Juni 1913 



Es ist ebenso natiirlich, wie gewohnlich von der Wissenschaft un- 
beachtet, dafi der Mensch so, wie er heute einmal im Leben darinnen 
stent, einen Teil seines Wesens eigentlich gar nicht kennen kann. So 
wie die Umwelt urn den Menschen herum sich ausbreitet, so stellt 
sie sich dar - wenn man sie gleichsam im groben zeichnet -, aufstei- 
gend von dem mineralischen Reich durch das Pflanzenreich und 
durch das Tierreich bis herauf zum Menschen. Und voraussetzen 
mufi der Mensch ja ganz selbstverstandlich, daft hinter alle dem, was 
er an Formen ringsherum wahrnimmt, die schaffende Kraft stehe in 
alien Reichen der Natur, die den Menschen umgeben. In der ganzen 
uns umgebenden Natur mufi zunachst vorausgesetzt werden die 
schaffende Kraft. Nun handelt es sich darum, dafi der Mensch, wenn 
er den Blick in seine Umwelt richtet, dadurch, dafi das mineralische, 
pflanzliche und tierische Reich aufierhalb seiner sind und er sie be- 
obachten kann, sich Erkenntnisse erwirbt. Aber von demjenigen, was 
der Mensch an sich selber hat, kann er sich eigentlich nur insoweit 
Kenntnisse erwerben, als in ihm die Krafte walten, die in den ge- 
nannten drei Reichen der Natur draufien auch sind. Und insofern er 
Krafte in sich tragt, die iiber die Reiche der Natur hinausgehen, kann 
der Mensch eigentlich mit den gewohnlichen Erkenntnismitteln sie 
gar nicht erkennen, kann gar nichts davon wissen. Denn durch das 
gerade, wodurch der Mensch iiber die Reiche der Natur herausragt, 
kann er ja erkennen, durch das kann er sich eben ein Wissen erwer- 
ben. Geradesowenig wie das Auge, das sehen mufi, sich selbst sehen 
kann, ebensowenig kann der Mensch das an sich selber erkennen, was 
da ist, damit er erkennen kann. Es ist ein einfacher Gedanke, aber 
ein Gedanke, der durchaus gilt. Es ist unmogHch, dafi das Auge sich 
selber sieht, weil es zum Sehen da ist; es ist unmoglich, dafi diejenigen 
Krafte im Menschen, die zum Erkennen da sind, sich selber erkennen. 
Und diese Krafte, die zum Erkennen da sind, das sind gerade die- 



jenigen, welche darstellen das, was mit der Menschheit iiber die Tier- 
heit herausragt. 

Der materialistische Darwinismus macht es sich nun leicht. Er 
vergiflt die ebenso naturliche wie einfache Erkenntnis, dafi die eigent- 
liche Erkenntniskraft, durch die der Mensch iiber die Tierheit her- 
ausragt, fur das gewohnliche Erkennen eben unerkennbar sein mufi. 
Er konstatiert zwar, dafi sie unerkennbar ist, und leugnet sie deshalb 
und betrachtet deshalb den Menschen nur insoweit, als der Mensch 
gerade auch noch der Tierheit angehort. Sie sehen, worauf der eigentli- 
che Trugschlufi, die Tauschung des materialistischen Darwinismus be- 
ruht. Diejenigen Krafte, welche die eigentlichen Erkenntniskrafte 
sind im Menschen, kann der Mensch an sich selber nicht erkennen. 
Das ist so naturlich, wie an sich selber sich das Auge nicht sehen 
kann. Aber das Auge kann ein anderes Auge sehen, und weil das 
Auge ein anderes Auge sehen kann, so kann es unter Umstanden an 
sich glauben. Nun, mit dem Erkennen ist das nicht so der Fall. Das 
Erkennen kann sich selber nicht erkennen, aber es ware immer wenig- 
stens noch logisch moglich, dafi der Mensch einem anderen Men- 
schen gegenubertritt und das Erkennen, das heifit dasjenige, was den 
Menschen iiber die Tierheit herausfiihrt, am anderen Menschen er- 
kennen wiirde. Aber auch das ist unmoglich, und zwar aus den Griin- 
den, die schon aus unseren bisherigen Betrachtungen hervorgehen. 

Was ist denn das gewohnliche Erkennen fur die aufiere Welt? Wir 
haben es schon hervorgehoben: Es ist ein fortwahrendes Zerstoren, 
ein Aufreiben der aufteren, wirklich der aufieren Gehirn- und Ner- 
venstruktur. Wenn man also suchen wiirde im gewohnlichen Tages- 
leben, in dem Leben, das dem aufieren physischen Plane angehort, 
nach den Tatsachen des Erkennens, so wiirde man einen Zerstdrungs- 
prozefi im Nervensystem finden. Man wiirde also keinen schopferi- 
schen, keinen aufbauenden Prozefi finden. Aber die schopferischen 
Krafte, die den Menschen erst eigentlich zuwege bringen, indem sie 
ihn iiber die Tierheit erheben, konnen sich im wachen Tagesleben, in 
dem Leben, das fur gewohnlich das erkennende ist, iiberhaupt nicht 
entfalten. Die miissen da so zur Geltung kommen, dafi sie die Zersto- 
rung der Nervenstruktur nicht aufhalten. Das heifit aber, sie ruhen, 



sie schlafen im wachen Tagesleben. Man hat schon viel erkannt, 
wenn man den Satz durchdrungen hat, dafi alles, was man erkennen 
miifke, um schon auf dem physischen Plan den materialistischen 
Darwinismus als einen Unsinn zu erkennen, eigentlich schlaft vom 
Aufwachen bis zum Einschlafen, und daft statt dessen ein Zersto- 
rungsprozefi da ist, wahrend das ruht, was den Menschen iiber die 
Tierheit heraushebt. Die schopferischen Krafte, die den tierischen 
Organismus hervorbringen, stehen an Vollkommenheit hinter den- 
jenigen zuriick, die am menschlichen Organismus arbeiten. Wahrend 
des wachen Tageslebens wirken diese schopferischen Prozesse gar 
nicht, sondern ein anderer, der fortwahrend gerade dasjenige zer- 
stort, was iiber die Tierheit herausgeht, die schopferischen Krafte des 
Menschen. Diese Krafte werden gerade wahrend des wachen Tages- 
lebens zerstort. Sie sind also gar nicht da. Wahrend des wachen Ta- 
geslebens schlafen also die Krafte, die eigentlich den Menschen iiber 
die Tierheit heben. Wahrend des Schlafes treten sie nun auf. Da 
wird dasjenige, was zerstort worden ist, wiederum hergestellt, da 
wird das gleichsam wiederum ausgefiillt. So dafi wahrgenommen 
werden konnten die schopferischen Krafte, die den Menschen iiber 
die Tierheit herausheben, eigentlich nur an dem schlafenden Men- 
schen. Wir wiirden also zu sagen haben: Dasjenige, was am schlafen- 
den Menschen wiederum herstellt die Krafte, die wahrend des tag- 
wachen Lebens abgebraucht werden, das miissen Krafte sein, die den 
Menschen iiber die Tierheit herausheben. Diese Krafte sind ja zwar 
heute der aufieren Naturwissenschaft noch unbekannt; sie gelangt 
erst allmahlich dazu, sie zu ahnen. Aber sie ist auf dem Wege, diese 
Krafte ganz mit aufteren Mitteln einmal blofizulegen. Wirklich be- 
obachtet konnten sie nur im Menschen werden, wenn man beobach- 
ten wiirde, wie beim Menschen der Reorganisationsprozefi im Schlafe 
sich vollzieht. Denn das erleidet allerdings schon Ausnahmen, dafi 
nicht beobachtbar sind am Menschen fur gewohnlich diejenigen 
Krafte, die iiber die Tierheit hinausfuhren. Wenn einmal die Natur- 
wissenschaft unterscheiden wird diejenigen Krafte im Menschen, die 
in ihm vorhanden sind iiber die Tierheit hinaus, dann wird sie gerade 
am schlafenden Menschenleibe das Herausgehobensein des Menschen 



iiber die Tierheit auch physisch konstatieren, weil man erkennen 
wird, wie schopferisch wahrend des Schlafens dasjenige wirkt, was 
zerstorend wirkt wahrend des Tagwachens. Wenn einmal die Natur- 
wissenschaft unterscheiden lernen wird die Regenerationskrafte im 
Menschen von dem, was in der Tierheit vorhanden ist, dann wird 
sie erkennen, wie die schopferischen Krafte, die im Erdenleben wal- 
ten, urn den Menschen iiber die Tierheit herauszufuhren, nur wa- 
chen, wenn der Mensch schlaft. Es schlafen also des Menschen eigent- 
liche Schopferkrafte, wenn der Mensch wacht; und es wachen des 
Menschen eigentliche Schopferkrafte, wenn der Mensch schlaft. Aus 
alle dem konnen wir entnehmen, dafi in Selbsterkenntnis, in wirkli- 
cher Selbsterkenntnis des Menschen schopferische Krafte, die eigent- 
lich menschlichen Krafte, nur dann wahrgenommen werden konnen, 
wenn der Mensch hellsichtig wird wahrend des Schlafens, das heifit, 
in einem, dem sonstigen Schlafe gleichen Zustand hellsichtig auf- 
wacht. Im funften Vortrage dieser Betrachtungsreihe habe ich ja 
schon darauf hingewiesen. Heute aber habe ich ja schon gesagt, dafi 
in einer gewissen Weise man aus den Prozessen, die sich am schlafen- 
den Menschen zeigen, nach und nach naturwissenschaftlich Hinwei- 
sungen finden wird auf diese Krafte, die den Menschen heraufheben 
iiber die Tierheit. Aber es werden eben immer nur Hinweise bleiben. 
Denn diese Krafte stellen sich gerade, wenn sie sich heute dem hell- 
sichtigen Bewufksein darstellen, als solche dar, daft sie ihre wahre, 
ureigentliche Gestalt nicht nach auften den Sinnen zeigen konnen. 
Man wird einmal auf diese Krafte Schlusse ziehen konnen aus natur- 
wissenschaftlichen Tatsachen. Aber aus einem ganz anderen Grunde 
als dem, daft diese Krafte eigentlich nicht wahrnehmbar sind, werden 
diese Krafte - zwar nicht wahrnehmbar, so doch erschlossen werden 
konnen: aus dem Grunde namlich, weil diese Krafte, welche die men- 
schenschopferischen Krafte genannt werden konnen, sich zu allem, 
was sonst Naturkrafte sind, in einer ganz besonderen Weise verhalten. 
Es ist ein ziemlich schwieriges Kapitel, auf das man da kommt, aber 
wir werden es uns in der folgenden Weise wohl klar machen konnen. 

Nehmen wir an, wir hatten hier den Rezipienten einer Luft- 
pumpe, eine Glasglocke, aus der wir die Luft herauspumpen, und 



nehmen wir an, es wurde uns gelingen, diese umgesturzte Glasglocke 
wirklich luftleer zu machen. Das ist ja angehend moglich fiir die 
auftere Erfahrung. Da wird nun jeder sagen, der mit seinem Ver- 
stande an der sinnlichen Welt kleben will: Da drinnen ist also keine 
Luft, da ist ein luftleerer Raum. Mehr kann man ja nicht machen, 
weniger als keine Luft kann da nicht drinnen sein. - Wahr ist das doch 
nicht. Denken wir uns einmal, wir pumpten, das heiftt wir machten 
die Luft immer diinner da drinnen. Dann konnen wir uns vorstellen, 
daft das so weit gehen konnte, daft wir gewissermaften am Nullpunkt 
angelangt waren, daft wir nun aber weiter pumpten, und nun unter 
Null gehen konnten: dann wiirden wir einen Raum bekommen, der 
weniger als luftleer ware. Die Menschen, die sehr am Materiellen 
hangen, werden sich das schwer vorstellen konnen, denn die Men- 
schen konnen sich gewohnlich nicht «weniger als nichts» vorstellen. 

In bezug auf Sinneswahrnehmungen wird diese Vorstellung schon 
eher vollzogen werden konnen. Denken wir uns einmal, wir seien in 
einem Walde, wo viele, viele Vogel singen. Mitten darin sind wir in 
diesem Vogelgesang. Nehmen wir nun aber an, wir entfernten uns 
immer mehr und mehr, wir gingen aus dem Walde heraus, wir horten 
den Vogelsang immer weniger, kamen an einen Ort, wo wir ihn 
nicht mehr horen konnten, aber wir gingen noch weiter: dann mufi 
das Verringertwerden des Horens doch auch weiter gehen. Wir kom- 
men zur Stille, aber wenn wir weiter gehen, doch auch in bezug auf 
den Vogelgesang zu dem, was unter der Stille, unter der Ruhe ist. 
Sie sehen, daft dieser zweite Gedanke, diese zweite Vorstellung schon 
besser zu vollziehen ist als die erste. Daft es gerade eine Grenze gibt, 
wo wir nichts mehr horen, konnen wir uns leicht vorstellen. Aber 
wir konnen uns auch noch vorstellen, daft wir weiter gehen konnen, 
wobei wir sogar weniger als nichts horen. 

Es ist manchmal ganz wunderbar, welche Dinge wie Axiome, wie 
Selbstverstandlichkeiten hingenommen werden. So konnen wir in 
zahlreichen philosophischen Werken des Westens lesen: Weniger als 
nichts kann nirgends da sein, weniger als nichts gibt es nicht. - Ja, 
nicht einmal das Nichts, so behaupten manche, konne da sein. Jetzt 
muft ich etwas recht Triviales sagen. Im Leben bemerken die Men- 



schen schon recht gut, dafi es sowohl ein «Nichts» als auch ein 
« Weniger-als-Nichts » gibt fiir gewisse Tatsachenreihen. Wenn Sie 
zehn Mark in der Tasche haben, so konnen Sie diese immer mehr 
verringern. Sie konnen fiinf, vier, drei, zwei, eine Mark aus ihnen ma- 
chen, und diese eine konnen Sie auch noch ausgeben. Da kann man 
schon zu einem Nichts kommen. Aber auf diesem Gebiete gibt es 
sogar wirklich ganz real ein Weniger-als-Nichts. Das ist sogar recht 
oft eine sehr starke Realitat, denn jeder Mensch ist wohl zufriede- 
ner, wenn er zwei, drei, vier, fiinf Mark in der Tasche hat, als wenn er 
zwei, drei, vier, fiinf Mark schuldig ist. Das ist weniger als nichts, 
und dieses Weniger-als-Nichts ist in unserem praktischen Leben so- 
gar eine recht starke, recht wirksame Realitat. Denn diese Realitat des 
Weniger-als-Nichts kann ja sogar eine viel starkere Realitat sein als 
die Realitat des Besitzes. 

Was in diesem trivialen Beispiele da ist, ist in der Tat in der 
Welt auch da. Alle philosophischen Deklamationen von dem 
«Nichts», von dem «Gehen bis zum Nichts» und so weiter sind 
eigentlich im Grunde genommen, wenn sie auch oftmals mit axioma- 
tischer Pretention auftreten, Wischiwaschi, so etwas, was ein ver- 
schwimmendes Nichts ist. Richtig selber wie ein verschwimmendes 
Nichts sind diese Axiome. Nichts sind diese Axiome iiber das Nichts. 
Es ist durchaus richtig, daft das Etwas, das physische Etwas herunter- 
vermindert werden kann bis zu dem Nichts, und dann noch weiter, 
zum Weniger-als-Nichts. Es ist durchaus richtig, dafi dieses Nichts 
iiberall ein realer Faktor ist. Die Welt, die uns umgibt, die wir als 
Naturkrafte kennen, miissen wir uns, so wie sie im mineralischen, 
pflanzlichen, tierischen Reich uns entgegentritt, bis ins Nichts her- 
untergemindert denken, dann aber noch weiter, unter das Nichts 
heruntergemindert: dann kommen die Krafte heraus, welche die 
schopferischen Krafte sind, wenn der Mensch schlaft. So verhalten 
sich die Krafte, die den Menschen regenerieren, wenn er schlaft, zu 
den gewohnlichen Naturkraften, die um uns herum sind. 

Da nun aber die gewohnliche Naturwissenschaft von den Kraften 
nur die Aufienseite kennt, eigentlich sogar nur ein Abstraktum fest- 
halt, so kann sie auf diesen Unterschied iiberhaupt nicht eingehen. 



Denn die gewohnliche Naturwissenschaft verhalt sich zu der Wirk- 
lichkeit in den Naturkraften so, wie man sich etwa verhalten wiirde, 
sagen wir, zu zehn Linsen, zehn Erbsen, zehn Bohnen, indem man die 
Qualitat weglafit, und nur die Zahlen sagt: es sind ja alle drei eben 
zehn, nichts anderes als zehn. So unterscheidet die aufiere Naturwis- 
senschaft nicht, sondern sie hat gemeinsame Namen, die aber nur 
wie die Zahl die Oberflache der Dinge beriihren. 

Nehmen Sie nun an, dafi die Naturwissenschaft einmal darauf 
kommen wird: es miissen Krafte waken, wenn im Schlaf der Orga- 
nismus wieder regeneriert, wieder aufgebaut wird, - so wird sie sich 
zu diesen Kraften verhalten, wie jemand sich gegen einen Menschen 
verhalt, der ihm sagt: Ich habe funfzehn Mark in der Tasche, - und 
dieser Jemand wiirde nun antworten: So, Mark interessiert mich nicht, 
funfzehn hast du. - Dann kame ein anderer und sagte: Ich habe 
funfzehn Mark Schulden. - Dann wiirde der Jemand sagen: Das ist 
nicht wahr, funfzehn hast du. - Er lafk unbeachtet, um was es sich 
gerade handelt. So auch wird man weglassen gerade das Charakteri- 
stische der Krafte, die den Menschen aufbauen wahrend des Schla- 
fes. Die Folge wird sein, dafi man diese Krafte verwechseln wird mit 
den gewohnlichen Naturgesetzen und nicht erkennen wird, dafi da 
hohere Gesetze waken. 

Das alles erwahne ich, um zu zeigen, welche Schwierigkeit die 
aufiere Wissenschaft immer hat und haben mufi, wenn sie die Wahr- 
heit erkennen will. Zwar wird sie Schlusse machen und dann wohl 
auf die Wahrheit kommen. Aber das wird fur eine gewisse Anzahl 
von Menschen nicht notwendig sein, denn es wird ja diese Wissen- 
schaft allmahlich unterstiitzt werden von dem hellsichtigen Erkennen, 
fur das sich allerdings diese Krafte ganz anders verhalten als die 
Krafte, die wir draufien im mineralischen, pflanzlichen, tierischen 
Reich regsam finden. Ich kann jetzt nicht darauf eingehen, dafi ein 
oberflachlicher Einwand der ware, daft die Tiere ja auch schlafen. 
Solche Einwande sind logisch wirklich ganz minderwertig, aber man 
bemerkt nicht ihre Minderwertigkeit, weil man nicht nach dem We- 
sen der Sache, sondern nach Begriffen urteilt. Derjenige, der den 
tierischen Schlaf in diese Betrachtung hereinbringen wiirde, der wiirde 



logisch denselben Fehler begehen, wie wenn jemand sagen wiirde: 
Ich spitze meinen Bleistift mit einem Messer und ich rasiere mich mit 
einem Messer, - und der andere wiirde sagen: Das kann ja gar nicht 
sein, ein Messer gehort zum Fleischschneiden. - So urteilen die Men- 
schen iiberall. Die Menschen denken, dasselbe habe fur andere Reiche 
dieselbe Funktion. Das ist aber derselbe Fehler, wie wenn jemand, 
der nur ein Messer beim Fleischschneiden gesehen hat, und nun sieht, 
wie ein Messer zum Rasieren verwendet wird, das Rasieren mit dem 
Fleischschneiden zusammenbringen wiirde. Der Schlaf ist beim Men- 
schen eine ganz andere Funktion als beim Tier. 

Ich wollte Sie hinweisen auf Krafte, die in der menschlichen 
Natur waken, die also zunachst uns entgegentreten, wenn wir den 
schlafenden Menschen ins Auge fassen, die uns entgegentreten bei 
der Regeneration des Organismus im Schlafe. Aber diese Krafte 
sind mit anderen Kraften verwandt, mit denselben Kraften durch- 
aus verwandt, welche im Menschen sich auch mit einer gewissen, 
man mochte sagen, Unbewufitheit entwickeln. Es entwickeln sich 
im Menschen gewisse Krafte mit einer gewissen Unbewufitheit: 
das sind die Krafte, welche zusammenhangen mit der mensch- 
lichen Fortpflanzung, mit der menschlichen Generation. Wir wissen 
ja, dafi im menschlichen Bewufitsein bis zu einem gewissen Le- 
bensalter iiber diese Krafte eine unmittelbare holde Unbewufitheit 
waltet, die Unschuld des Kindesalters. Wir wissen, dafi mit einem ge- 
wissen Alter iiber diesen Kraften das Bewufitsein erwacht, dafi 
gleichsam von einem bestimmten Alter an der menschliche Organis- 
mus durchsetzt wird vom Bewufitsein aus mit den Kraften, die spa- 
ter die sinnliche Liebe der Geschlechter genannt werden. Was vor- 
her waltet wie schlafende Krafte, die erst mit der Geschlechtsreife er- 
wachen, das sind, wenn sie in ihrer ureigenen Gestalt betrachtet wer- 
den, genau dieselben Krafte, die im Schlaf die zerstorten Krafte im 
Menschen wieder herstellen. Verdeckt sind diese Krafte nur von der 
anderen menschlichen Natur, weil sie vermischt sind mit der anderen 
menschlichen Natur. Es waken unsichtbar im Menschen Krafte, wel- 
che schuldvoll erst werden, wenn sie zum Erwachen kommen, wel- 
che schlafen oder hochstens traumen bis die Geschlechtsreife eintritt. 



Da in der menschlichen Natur die spateren Krafte sich erst vor- 
bereiten, so sind diese spateren Krafte, die noch nicht wach sind, 
schon von der Geburt an vermischt mit den iibrigen Kraften der 
menschlichen Natur, und diese menschliche Natur wird wie durchsetzt 
von diesen schlafenden Kraften. Das ist es, was als so wunderbares 
Mysterium uns im Kinde entgegentritt: die schlafenden Krafte der 
Generation, die erst spater erwachen. Daher ist es auch, dafi der- 
jenige, der fur so etwas eine Empfindung hat, etwas wie das Wehen 
des Gotterodems empfindet, wenn er unter den mannigfachen Un- 
gezogenheiten, Eigensinnigkeiten und anderen mehr oder weniger 
unangenehmen Eigenschaften des Kindesalters dieselben Krafte wirk- 
sam findet, die nur wie zuriickgezogen sind im Kindesalter, dieselben 
Krafte, die bei der Geschlechtsreife erwachen. Es sind diese Eigen- 
schaften des Kindes schuldlos die Eigenschaften des Erwachsenen. 
So verspiirt derjenige, der unter diesen Eigenschaften die in das Kin- 
desalter wie zuriickgezogenen Generationskrafte erkennt, den Odem 
der Gotter, der gottlichen Krafte, die so wunderbar sich ausnehmen, 
weil sie, indem sie spater des Menschen niedere Natur darstellen, so- 
lange sie in Unschuld walten, einen gottlichen Hauch wirklich dar- 
bieten. Diese Dinge mufi man empfinden, fiihlen. Dann wird man 
das menschliche Wesen so wunderbar zusammengefalk erkennen aus 
den Kraften, die im zartesten Kindesalter wie schlafend walten und 
spater, wenn sie erwachen, wirksam nur sind, wenn sie in Unschuld 
walten, wenn der Mensch in der Nacht in die Unschuld des Schla- 
fens zuriicksinkt. 

So zerfallt uns die menschliche Natur gleichsam in zwei Teile. 
Wir haben eigentlich in jedem Menschen zwei Menschen vor uns: 
den einen Menschen, der wir sind vom Aufwachen bis zum Ein- 
schlafen, und den anderen Menschen, der wir sind vom Einschlafen 
bis zum Aufwachen. In dem einen Menschen sind wir fortwahrend 
bemuht, unsere Natur bis zur Tierheit herabzuqualen mit allem, 
was nicht Erkenntnis ist, was nicht rein im Geiste erfafit wird. Mit 
alle dem sind wir immerdar bemuht, unsere Natur zur Tierheit herab- 
zuqualen. Dies ist wahrend unseres Wachzustandes. Was uns aber 
iiber diesen Menschen erhebt, waltet zunachst als holdselige Kraft 



unschuldsvoll wahrend der Kindheit innerhalb der Generationskraf- 
te, und waltet, wenn diese Krafte erwachen, im Schlafe, wenn rege- 
neriert wird, was durch das Tagwachen zerstort worden ist. So ha- 
ben wir einen Menschen in uns, der verwandt ist mit den schopfe- 
rischen Kraften im Menschen, und einen Menschen, der diese Krafte 
zerstort. Das Bedeutsame aber in der Doppelnatur des Menschen ist, 
dafi man eigentlich hinter alle dem, was die Sinne wahrnehmen, zu 
vermuten hat einen anderen Menschen, einen Menschen namlich, in 
dem die schopferischen Krafte waken. Dieser zweite Mensch, in dem 
die menschenschopferischen Krafte waken, ist ungemischt eigentlich 
nie da. Er ist niemals ohne Mischung da: wahrend des Wachens ist 
er nicht da und wahrend des Schlafens auch nicht. Denn wahrend 
des Schlafens bleibt ja der physische Leib und Atherleib durchsetzt 
von den Nachwirkungen des Tages, von den Zerstorungskraften. 
Wenn diese Zerstorungskrafte aber endlich fortgeschafft worden 
sind, so wachen wir ja wieder auf. 

So ist es seit jenem Zeitaker, das wir das lemurische Zeitalter 
nennen, seit dem eigentlich die gegenwartige Menschheit ihre Ent- 
wickelung begonnen hat. Damals - Sie finden diesen Moment ge- 
nauer dargestellt in meiner «Geheimwissenschaft» - fand der luziferi- 
sche Einflufi auf den Menschen statt und brachte Dinge iiber den 
Menschen, die wir folgendermafien charakterisieren konnen: Aus 
diesem luziferischen Einflufi kam neben allem anderen dasjenige, 
was heute den Menschen fortwahrend zwingt, sich zur Tierheit 
herabzuqualen. Dasjenige aber, was der Menschennatur beigemischt 
ist, was der Mensch eigentlich, so wie er ist, noch nicht erkennt, die 
schopferischen Krafte, das waltete vor dem luziferischen Impuls 
als Menschtum in der ersten lemurischen Zeit. Wir steigen auf in 
der Betrachtung von dem gewordenen Menschen zu dem werdenden, 
von dem Menschen als Geschopf zu den menschenschopferischen 
Kraften. Das erweitert aber unseren Blick zugleich in jene alte lemu- 
rische Zeit hinein, da der Mensch noch ganz und vollkommen 
durchsetzt war von diesen schopferischen Kraften. Damals wurde 
also der Mensch in seiner heutigen Gestalt. Wenn wir das Menschen- 
geschlecht verfolgen von diesem Zeitpunkt der lemurischen Zeit an, 



so haben wir durch alles hindurch, was dann gekommen ist, immer 
diese Doppelnatur des Menschen vor uns. Eingetreten ist der Mensch 
damals in eine Art niedere Natur. Aber dazumal - das zeigt uns der 
zuriickgewandte hellsichtige Blick in die Akasha-Chronik - ist neben 
jenen auch von menschenschopferischen Kraften durchsetzten Men- 
schen gleichsam hinzugetreten, wie eine Schwester- oder Bruderseele, 
eine bestimmte Seele. Es wurde gewissermafien zuriickgehalten diese 
Schwesterseele, die nicht in die Menschenevolution hineinversetzt 
worden ist. Sie blieb nur durchsetzt von menschenschopferischen 
Kraften. Es blieb zuriick ein Mensch, in der alten lemurischen Zeit, 
gleichsam die Schwester- oder Bruderseele - denn fur jene Zeit ist 
das ja einerlei -, es blieb zuriick die Bruderseele des Adam. Diese 
Seele blieb damals zuriick, diese Seele konnte nicht eingehen in den 
physischen Menschheitsprozefi. Sie blieb zuriick und waltete unsicht- 
bar fur den physischen Menschheitsprozefi. Sie wurde nicht geboren 
wie die Menschen im fortlaufenden Prozefi. Denn ware sie geboren 
worden und gestorben, dann ware sie ja eingetreten in den physi- 
schen Menschheitsprozefi. Sie waltete im Unsichtbaren und konnte 
nur wahrgenommen werden von denjenigen, die sich hinauferhoben 
zu jenen hellsichtigen Hohen, zu jenen hellsichtigen Kraften, die er- 
wachen in dem Zustande, der sonst der Schlaf ist. Denn dann ist der 
Mensch verwandt mit den Kraften, die lauter in der Schwesterseele 
waken. Der Mensch ging ein in die Evolution, aber dariiber waltend 
lebte, sich opfernd, eine Seele, die sich zunachst nicht verkorperte 
wahrend des ganzen Menschheitsprozesses, die nicht nach Verkor- 
perungen strebte, die nicht nach Geburt und Tod strebte wie die Men- 
schenseelen. Diese Seele wurde nur sichtbar, konnte sich nur zeigen, 
wenn die Menschen schlafend hellsichtig werden konnten. Sie wirkte 
aber doch auf die Menschheit, diese Seele, da, wo die Menschheit in 
besonderem Hellsehen ihr entgegentrat. Das waren Menschen, welche 
durch Schulung oder naturgemafi solche hellsichtigen Krafte besafien, 
die die schopferischen Krafte erkennen konnten. Und wo solche 
Schulen in der Geschichte auftreten, kann man immer erkennen, dafi 
sie gewahr wurden eine Seele, welche die Menschheit begleitet. In 
den meisten Fallen war eben diese Seele nur erkennbar solchen hell- 



sichtigen Zustanden, die den geistigen Blick hineinerweiterten ins 
Schlafbewufksein. 

Durch jene besonderen Umstande, unter denen die Arjunaseele 
all das urn sich herum wahrnahm und auf ihre Empfindung wirken 
lieft, indem sie fiihlte, was sich damals in Kurukshetra abspielte, auf 
dem Schlachtfelde, wo die Kurus und Pandus sich gegeniiberstanden, 
da ereignete es sich, daft durch die Seele des Wagenlenkers des Ar- 
juna diese bestimmte eigentumliche Seele sprach. Und die Erschei- 
nung dieser Seele, sprechend durch eine Menschenseele, das ist der 
Krishna. Welche Seele also war geeignet, in die menschliche Seele 
hineinzuversenken den Impuls zum Selbstbewufttsein? Jene Seele war 
es, die zuriickgeblieben ist in der alten lemurischen Zeit, als die 
Menschheit in die eigentliche Erdenevolution eingetreten ist. Fruher 
war diese Seele oftmals in Erscheinungen zu schauen, aber in viel geisti- 
gerer Art. In dem Zeitpunkte aber, von dem uns der erhabene Sang, 
die gdttliche Gita verkiindet, ist zu denken eine Art Verkorperung — 
aber viel Maya ist dabei -, eine Art Verkorperung dieser Seele von 
Krishna. Dann aber tritt in der Menschheitsgeschichte eine bestimmte 
Verkorperung ein: diese selbe Seele verkorpert sich spater wirklich 
in einem Knaben. Diejenigen der verehrten Freunde, zu denen ich 
ofter dariiber gesprochen habe, wissen, daft zu der Zeit, als das 
Christentum begriindet wurde, zwei Knaben geboren wurden in Fa- 
milien, in welchen beiden das Blut des Hauses David flofi. Der eine 
Knabe ist uns im Matthaus-Evangelium, der andere im Lukas-Evan- 
gelium geschildert. Dies ist der wahre Grund, warum das Matthaus- 
Evangelium mit dem Lukas-Evangelium fur eine aufiere Betrachtung 
nicht stimmt. Derselbe Jesusknabe nun, von dem das Lukas-Evan- 
gelium berichtet, ist zunachst die Verkorperung dieser selben Seele, 
die fruher niemals in einem menschlichen Leibe gewohnt hat, aber 
doch eine Menschenseele ist, weil sie eine Menschenseele war wahrend 
der alten lemurischen Zeit, in welcher unsere eigentliche Evolution 
begonnen hat. Es ist dieselbe Seele, die sich als der Krishna offenbart 
hat. So haben wir dasjenige, was der Krishna-Impuls bedeutet, den 
Anstofi zum menschlichen Selbstbewufksein, verkorpert in dem 
Korper des Lukas-Jesusknaben. Das, was da verkorpert war, ist ver- 



wandt mit den Kraften, die im Kindesalter in so holder Unschuld, 
bevor sie als Geschlechtskrafte erwachen, schlafend da sind. Im 
Lukas-Jesusknaben konnen sie sich bis zu diesem Alter hin, wo sonst 
der Mensch in die Geschlechtsreife eintritt, betatigen, kundgeben. 
Es hatte der Korper des Jesusknaben, der ja aus der allgemeinen 
Menschheit genommen worden ist, die in die Inkarnationen herunter- 
gestiegen war, nicht mehr gepafit zu den Kraften, die ja verwandt 
sind mit den holden, unschuldigen Geschlechtskraften im Kinde. 
Daher geht die Seele, die in dem anderen Jesusknaben ist und die, 
wie die meisten unserer lieben Freunde ja wissen, die Zarathustra- 
seele ist, also eine Seele, die von Inkarnation zu Inkarnation ge- 
schritten ist und die gerade durch besonderes Arbeiten innerhalb 
vieler Inkarnationen ihre Hohe erreicht hat, daher geht diese Zara- 
thustraseele hiniiber in den Leib des Lukas-Jesusknaben und ist von 
da ab - wie Sie es dargestellt finden in meinem Buche «Die geistige 
Fiihrung des Menschen und der Menschheit» - mit diesem Leibe des 
Lukas-Jesusknaben verbunden. Da beriihren wir ein wunderbares 
Geheimnis. Da sehen wir, wie in einen menschlichen Leib, in den 
Leib des Lukas-Jesusknaben, einzieht die Menschenseele, wie sie ge- 
wesen ist, bevor der Mensch in die irdische Inkarnationsreihe hin- 
untergegangen ist. Da begreifen wir, dafi diese Seele in dem Menschen- 
leibe nur bis zum zwolften Jahre dieses Leibes walten konnte, be- 
greifen, dafi dann eine andere Seele, welche alle Menschheitsver- 
wandlungen durchgemacht hat, wie die Zarathustraseele, Besitz er- 
greifen mufi von diesem besonderen Leibe. Das Wunderbare voll- 
zieht sich, daft dasjenige, was des Menschen Innerstes ist, sein eigent- 
liches Selbst, was wir als Krishna haben ansprechen sehen, als Impuls 
haben aufblitzen sehen in dem Krishna-Impuls, den Jesusknaben 
durchdringt, der uns geschildert wird im Lukas-Evangelium. Die- 
jenigen Krafte sind darinnen, welche die innersten Menschheits- 
krafte sind. Wir konnen sie auch die Krishna-Krafte nennen, denn 
wir kennen ja ihren Ursprung. Was ich im vorigen Vortrage gleich- 
sam wie ohne Wurzel gezeichnet habe, diese Krishna- Wurzel reicht 
bis in die lemurische Zeit hinauf, in die menschliche Urzeit. Sie war 
in einer Zeit mit der Menschheit verbunden, bevor die physische 



Menschheitsentwickelung begonnen hat. Diese Wurzel, diese in dem 
Unbestimmten zusammenkommenden, sich vereinenden Krishna- 
Krafte wirkten dann dazu, dafi das menschliche Innere von Innen 
heraus sich entfaltete, sich entwickelte. Konkret im Innern einer ein- 
zelnen Wesenheit ist diese Wurzel im Lukas-Jesusknaben darinnen, 
wachst heran und bleibt unter der Oberflache des Daseins fortwir- 
kend, nachdem die Zarathustraseele in diesen besonderen Menschen- 
leib eingezogen ist. Dann kommt in jenem Augenblick, der geschil- 
dert wird in der Bibel durch die Johannestaufe, also im dreifiigsten 
Jahre dieses eigentiimlichen Menschenleibes, dasjenige an diesen Leib 
heran, was jetzt der ganzen Menschheit angehort. In dem Augen- 
blick, der bezeichnet wird durch die Stimme: «Dieser ist mein viel- 
geliebter Sohn, heme habe ich ihn gezeugt», da tritt der Christus von 
der anderen Seite nun an das Physische heran. Hier haben wir den 
Moment: in dem Leibe, der vor uns steht, haben wir konkret das- 
jenige, was wir gestern abstrakt betrachtet haben. Es tritt, was der 
ganzen Menschheit angehort, an diesen Leib heran, der in sich ent- 
halt dasjenige, was von einem anderen Impulse aus die individuellen 
Krafte des Menscheninnern, die der Mensch noch heraufentfalten 
will, zum hochsten Ideal gebracht hat. 

Ich glaube, wenn Sie dasjenige betrachten, was uns heute zu einer 
Art Verstehen des grofien Momentes gefuhrt hat, der bildlich in der 
Bibel ausgedriickt wird als die Johannestaufe im Jordan, so werden 
Sie sagen miissen: Diese anthroposophische Betrachtung nimmt nichts 
hinweg von der Erhabenheit des Christus-Gedankens, sondern im 
Gegenteil, sie fiigt, indem sie das Verstandnis ausgiefit iiber diesen 
Christus-Gedanken, vieles zu dem hinzu, was in aufieren, exoterischen 
Anschauungen der Menschheit gegeben werden kann. 

Ich versuchte heute so darzustellen, dafi es aus dem auiSeren Mensch- 
heitsverlauf fur das unbefangene Gemiit einigermafien Verstandnis 
bringen kann. So aber ist dieses Geheimnis nicht gefunden worden. 
Es konnte vielleicht jemand an der Hand meiner Vortrage iiber das 
Lukas-Evangelium, die ich in Basel vor Jahren gehalten habe, wo ich 
zum erstenmal hingewiesen habe auf die zwei Jesusknaben und auf 
ihre Abstammung, wo ich zum ersten Male hinweisen konnte darauf, 



daft in dem einen Jesusknaben lebte die Zarathustraseele, und daft 
diese in einem bestimmten Zeitpunkte iiberging in den Leib des 
anderen Jesusknaben, es konnte jemand, der das gehort hat, fragen: 
Ja, warum ist denn das, was heute hinzugefiigt worden ist, nicht 
dazumal schon dargestellt worden? - Das hangt mit der ganzen Art, 
wie die Sache gefunden ist, zusammen. Namlich damit, daft wahr- 
haftig diese ganze Wahrheit in keinem einzigen Stiick mit dem 
menschlichen Verstande gefunden worden ist. So wie ich versuchte, 
sie heute einzukleiden, ist sie nicht gefunden, sondern so, daft zuerst 
die Wahrheit dastand - wie ich das geschildert habe vor ein paar 
Tagen -, daft die Tatsache da war. Dann hat sich das andere von 
selbst gegeben, hat sich angeschlossen an den Grundstamm dieser 
Erkenntnis der Wahrheit von den zwei Jesusknaben. Daraus konnen 
Sie entnehmen, wie in der anthroposophischen Stromung, die ich mir 
erlaube vor Ihnen zu vertreten, nichts verstandesmaftige Konstruk- 
tion ist. Das ist nicht etwas, was ich so hinstellen will, als ob es jeder 
so machen miisse, was ich selber als besondere Aufgabe fur mich 
selber betrachte: namlich, nichts zu sagen, was von dem Verstande 
als solchem gegeben ist, sondern die Dinge so zu nehmen, wie sie 
zunachst gegeben werden fur die okkulte Beobachtung, die spater 
erst durchdrungen wird von der menschlichen Vernunft. Nicht aus 
aufterer historischer Forschung ist das iiber die zwei Jesusknaben 
gefunden worden, sondern es war von Beginn an eine okkulte Tat- 
sache. Dann ist der Zusammenhang mit dem Krishna-Geheimnis of- 
fenbar worden. Sie sehen daraus, in welcher Weise Menschenwissen- 
schaft, die ins Okkulte hinein arbeiten muft in dem Zeitalter, in das 
wir selber eintreten, in welcher Weise auch den einzelnen Menschen- 
seelen verstandlich werden wird das, was die eigentlichen Grund- 
impulse der Erdenevolution sind, wie dieses immer mehr und 
mehr hineinleuchten wird in dasjenige, was geschehen ist, und wie 
wahre Wissenschaft wirklich nicht bloft zum Verstande sprechen 
wird, sondern wahrhaftig die ganze Seele des Menschen erfiillen 
wird. Gerade wer sich bekannt macht mit okkulten Tatsachen - 
und wahrhaftig, das erfahrt man immer mehr, je tiefer man ein- 
dringt in die Welt der Tatsachen -, der hat die Empfindung, der hat 



das Gefiihl fur die Grofie, fur die Herrlichkeit und fiir das Gewal- 
tige dieser Tatsachen. Unsere ganze Seele wird engagiert, nicht nur 
Verstand und Vernunft, unsere ganze Seele wird angefeuert, wenn 
wir uns auf die Wahrheit in dieser Weise einlassen. Und insbesondere 
in einem solchen Moment, da wir den Blick hinwenden zu jener 
wunderbaren Tatsache, wo der Menschheit ganzes Innere in einem 
Menschenleibe lebte und anderseits aus der ganzen Erdenevolu- 
tion sich heranentwickelt hat eine Seele, die von diesem Leibe Besitz 
ergreift, und wie nun wahrend dreier Jahre seines Lebens von aufien 
herangetreten ist an diesen Leib etwas, was aus dem Kosmos der 
ganzen Menschheit zuerteilt ist: wahrhaftig, das erschuttert und er- 
fiillt unsere ganze Seele. Das spirituelle Zeitalter wird uns auch die 
Moglichkeit bringen, solche Momente noch mehr zu vertiefen. Aber 
dasjenige, was untrennbar ist von dem spirituellen Zeitalter, das ist, 
dafi wir eben lernen, anders uns zu den grofien Weltratseln und 
Weltgeheimnissen zu verhalten, als sich die Vorwelt verhalten hat, 
dafi wir lernen, nicht nur Verstand und Vernunft den heiligen Rat- 
seln entgegenzuhalten, sondern unsere ganze Seele. Dann werden wir 
mit unserer Seele Teilnehmer an der ganzen Menschheitsevolution. 
Und die Art, wie wir Teilnehmer werden, wird fiir uns selber etwas, 
was wie eine Quelle ist des seligen Menschheitsbewufitseins: dafi wir 
uns seelisch erfiillt finden, dafi wir empfinden, gehoren zu diirfen 
zu der Menschheit, die iiber die Erde hin entwickeln soil solche Im- 
pulse, wie sie eben besprochen worden sind. 



ACHTER VORTRAG 



Helsingfors, 4. Juni 1913 



Wenn es sich darum handelt, voiles Verstandnis einer solchen 
Schopfung entgegenzubringen, wie es die Bhagavad Gita ist, das er- 
habene Lied, dann ist es notwendig, seine Seele in einer gewissen Be- 
ziehung erst geeignet zu machen, erst sie hinzufuhren zu jener Art 
des Empfindens und Fiihlens, die da eigentlich zugrunde liegt. Doch 
gilt dasjenige, was ich eben jetzt ausgesprochen habe, im Grunde nur 
fur die Lage, in der Menschen sind, die mit ihrem eigenen Fiihlen 
und Empfinden zunachst so weit entfernt sein mussen von der 
Bhagavad Gita wie die westlandische Bevolkerung. Es ist selbstver- 
standlich, daft wir eine zeitgenossische, geistige Leistung unmittelbar 
aufnehmen konnen. Es ist auch naturlich, dafi ein Volk oder die Zu- 
gehorigen eines Volkes eine geistige Leistung, die unmittelbar aus der 
Volkssubstanz entspringt, wenn sie auch alteren Zeiten angehort, 
immer unmittelbar empfindet. Allein der Bhagavad Gita stehen die 
westlandischen Bevolkerungen, nicht die siidasiatischen Bevolkerun- 
gen, ganz fern in Fiihlen und Empfinden. Will man ohne seelische 
Vorarbeit sich dieser Dichtung nahern, so mufi man sich auf diese 
ganz andere Geistes- und Seelenstimmung praparieren, wenn man 
die Bhagavad Gita verstehen will. Deshalb muE so unendlich viel Mifi- 
verstandnis entspringen. Eine geistige Leistung, die heriiberragt aus 
ganz fremdem Volksstamme, aus dem 9., 10. Jahrhundert vor unse- 
rer Zeitrechnung, vor der Begriindung des Christentums, kann von 
der westlandischen Bevolkerung nicht so unmittelbar verstanden 
werden wie, sagen wir, von dem finnischen Volke Kalevala oder von 
den Griechen die homerischen Dichtungen, oder vielmehr von der 
ganzen westlandischen Bevolkerung diese homerischen Dichtungen. 
Wir mussen, wenn wir auf diesen Punkt uns weiter einlassen wol- 
len, schon einiges wiederum zusammentragen, was uns den Weg zur 
Bhagavad Gita weisen konnte. 

Da mochte ich vor alien Dingen auf eines aufmerksam machen. 
Die Gipfelpunkte des geistigen Lebens sind eigentlich zu alien Zeiten 



fur die weiteren Horizonte des menschlichen Verstandnisses Ge- 
heimnisse gewesen. Und so ist es auch bis in unser Zeitalter herein 
in gewissem Sinne geblieben. Zu den besonderen Eigentiimlichkeiten 
unseres Zeitalters, das wir ja, insofern wir in der Morgenrote dieses 
Zeitalters stehen, mit einigem charakterisiert haben, wird es aller- 
dings gehoren, daft gewisse Dinge, die im weiteren Umkreise Ge- 
heimnisse geblieben sind, die nur bei einigen ganz wenigen bekannt 
waren, wirklich bekannt waren, daft diese popular werden, mehr 
heraus sich verbreiten in die weiteren Schichten unserer Mensch- 
heit. Und weil das so ist, sitzen Sie ja hier. Mit unserer Bewegung 
soil ja der Anfang gemacht werden dieses Heraustragens solcher 
Dinge, die eigentlich immer bisher Geheimnisse geblieben sind fur 
den weiteren Umkreis der Menschheit. Und manche vielleicht un- 
bewuftten Griinde, die Sie zur anthroposophischen Weltanschauung, 
zur anthroposophischen Geistesstromung drangten, kamen eben von 
diesem unbewuftten Verstandnis, daft sich heute gewisse Geheim- 
nisse in alle Seelen, in alle Herzen hineinergieften miissen. 

Aber bis in unsere Zeit war es von anderen Gesichtspunkten aus 
doch so, daft gewisse Dinge Geheimnisse geblieben sind, nicht weil 
man sie geheim gehalten hat, sondern weil es in der naturlichen 
Entwickelung der Menschheit liegt, daft sie Geheimnisse bleiben 
mufiten. Man spricht davon, daft durch ganz bestimmte, strenge 
Regeln die Geheimnisse der alten Mysterien geschiitzt waren vor 
der aufieren Menschheit. Aber noch mehr als durch die Regeln 
waren diese Geheimnisse eigentlich geschiitzt durch gewisse Grund- 
eigenschaften der allgemeinen Menschheit der alten Zeiten, indem 
ja die allgemeine Menschheit sie nicht hatte verstehen konnen. Da- 
durch blieben diese Mysterien geschiitzt, und das war ein viel star- 
kerer Schutz, dieser Unverstand, als irgendwelche auftere Regel. 
Im Grunde ist, gerade durch gewisse Eigentiimlichkeiten der mate- 
rialistischen Zeit, dies fur gewisse Dinge in einem erhohten Mafie 
der Fall, daft sie eigentlich Geheimnis bleiben. Man spricht damit 
etwas sehr Ketzerisches aus gegeniiber unserem Zeitalter. Es gibt 
zum Beispiel nichts Geschiitzteres in mittleren Gegenden Europas 
als die Fichtesche Philosophic Nicht daft sie durch strenge Regeln 



geschiitzt wird, nicht dafi sie Geheimnis geblieben ist, denn die 
Fichteschen Lehren sind gedruckt, werden auch gelesen; aber ver- 
standen werden sie nicht, sie sind Geheimnisse. Und so ist vieles, 
was sich der allgemeinen Entwickelung einfiigen mufi, Geheimwissen, 
so gibt es vieles, das Geheimnis bleibt, obwohl es offentlich an den 
Tag tritt. 

Nun gibt es aber nicht nur in dieser Beziehung eine Eigentiimlich- 
keit in der Menschheitsevolution, sondern auch in einer ganz ande- 
ren Beziehung - und dies ist fur diejenigen Gesichtspunkte wichtig, 
mit denen wir uns der Bhagavad Gita zu nahern haben -: Alies, was 
man nennen kann die Gefiihls-, Gemuts-, Empfindungsstimmung 
des alten Indien, aus der erwachsen ist die Bhagavad Gita, war im 
Grunde in seiner volligen Geistigkeit auch nur dem Verstandnis von 
wenigen zuganglich. Nun bleibt — und da ist wiederum eine Eigen- 
tumlichkeit der menschhchen Entwickelung, die ganz weisheitsvoll 
ist, wenn man sie zunachst auch paradox findet — , nun bleibt das- 
jenige, was ein Zeitalter durch wenige Menschen hervorgebracht 
hat, auch dann, wenn es mehr iibergeht in die allgemeine Bevolke- 
rung, seiner eigentlichen Tiefe nach ein Geheimnis. Auch fur die 
Zeitgenossen, fur die Anhanger, ja fur das ganze Volk, welches zu- 
gehorig diesem Geistesgipfel ist, blieb die Lehre und namenthch 
gerade die, welche durch die Bhagavad Gita enthiillt wird, ein Ge- 
heimnis, und auch der Nachwelt blieb die eigentliche Tiefe dieser 
Geistesstromung unbekannt. Man entwickelte zwar in der Folge- 
zeit einen gewissen Glauben daran, vielleicht auch eine grofie 
Begeisterung, aber man entwickelte nicht ein wirklich defer ein- 
gehendes Verstandnis. Weder die Zeitgenossen noch die Nach- 
welt entwickelten ein eigentliches Verstandnis. Wiederum hatten 
nur einige wenige in den Zwischenzeiten ein wirkliches Verstand- 
nis. Das bewirkt aber, dafi in dem Urteil der Nachwelt sich in 
einem ungeheuren Mafie falscht dasjenige, was einmal als eine solche 
besondere Geistesstromung da war. 

Man kann in der Regel bei den Nachkommen eines Volkes nicht 
suchen den Zugang zum Verstandnis dessen, um was es sich handelt. 
Man kann zum Beispiel heute in den Grundempfindungen und Ge- 



fuhlen der Inder nicht das wirkliche Verstandnis suchen fur die 
geistige Stromung, welche die Bhagavad Gita im tiefsten Sinne durch- 
dringt. Begeisterung, einen mit Gemiit und Empfindung durchdrun- 
genen Glauben dafiir, wird man im reichsten Mafie finden, aber das 
tiefe Verstandnis nicht. Das gilt aber nicht nur fur diese alten Zeiten, 
sondern besonders auch fiir das eben abgelaufene Zeitalter vom 14., 
15. Jahrhundert an bis ins 19. Jahrhundert. Da gilt es in besonde- 
rem Mafie sogar gerade fiir die Bekenner, fiir die Anhanger. Es ist 
ja eine Anekdote, die aber eine tiefe Wahrheit enthalt - wie es oft 
bei Anekdoten ist -, dafi ein grofier Denker Europas gesagt haben 
soli bei seinem Tode: Nur einer hat mich verstanden, und der hat 
mich mifi verstanden. - Eine Anekdote, aber eine tiefe Wahrheit! So 
kann man sagen: Es gibt auch fiir dieses abgelaufene Zeitalter et- 
was an geistiger Substanz, das eine Hohe darstellt, das aber im 
weitesten Umkreise seiner eigentlichen Natur nach unbekannt ge- 
blieben ist schon bei den Zeitgenossen. Das hangt zusammen mit 
etwas, worauf ich gerne aufmerksam machen mochte. 

Es wird ganz gewifi heute im Umkreise der morgenlandischen, 
indischen Bevolkerung mancher sehr gescheite Kopf zu finden sein, 
ganz aufierordentlich gescheite Kopfe, aber die ganze Konfiguration 
ihres Fuhlens und Empfindens hat sie schon entfernt von dem Ver- 
standnis derjenigen Gefiihle, die von der Bhagavad Gita ausgestromt 
sind. Das sind die einen. Auf der anderen Seite kommt zu diesen Men- 
schen von der westlandischen Kultur nur dasjenige, was nicht die 
Tiefen enthalt, was nur ein oberflachlich gewordenes Verstandnis 
darbietet. Dadurch kommt zweierlei zustande. Das eine, was kom- 
men kann, ist, dafi bei der morgenlandischen Bevolkerung, und na- 
mentlich bei den Nachkommen der Bhagavad Gita-Menschen, sich 
entwickeln kann etwas, das ihnen ganz gut das Gefuhl geben kann, 
wenn sie ansehen, was aus der veroberflachlichten westlandischen 
Kultur kommt: Diese Kultur steht weit hinter dem zuriick, was in 
der Bhagavad Gita schon gegeben ist. Denn fiir die Bhagavad Gita 
haben sie doch noch mehr Zugange als fiir dasjenige, was tiefer in 
dem abendlandischen Geistesleben liegt. Deswegen miissen wir be- 
greifen das Urteil vieler Inder, fiir die dasjenige, was wir an Geistes- 



kultur haben, etwas ungeheuer Uberraschendes ist. Es gibt aber auch 
noch andere Inder, welche gerade die Tiefen der westlandischen 
Geisteskultur aufnehmen mochten. Es gibt ganz gewifl indische 
Kopfe, welche gerne bereit waren, aufzunehmen solche Geistessub- 
stanz, wie sie uns entgegentreten kann, wenn wir zusammenfassen - 
wir konnten viele Denker oder sonstige geistige Menschen nennen 
wenn wir zusammenfassen Solovieff, Hegel und Fichte. Viele indi- 
sche Denker gibt es, die diese Geistessubstanz aufnehmen mochten. 
An einem besonderen Punkte konnte ich selbst eine gewisse Erfah- 
rung machen. Ganz im Anfange der Zeit, als wir unsere deutsche 
Sektion gegriindet hatten, schickte mir, und auch vielen anderen 
Europaern, ein indischer Denker eine Abhandlung. In dieser Ab- 
handlung suchte er sozusagen dasjenige, was indische Philosophic dar- 
bietet, in einer gewissen Weise zu verbinden mit gewichtigen euro- 
paischen Vorstellungen, wie man sie gewinnen konnte in ihrer Wahr- 
heit, wenn man tiefer eingehen wiirde auf Fichte und Hegel. Aber 
mit der ganzen Abhandlung war nichts anzufangen, denn trotz alles 
ehrlichen Strebens dieser Personlichkeit - es soil gar nichts gegen 
dieses Streben gesagt werden, nein, es soil gelobt werden, aber die Tat- 
sachen sind einmal so -, trotz alles ehrlichen Strebens stellte sich fur 
denjenigen, der den Zugang hat zu den wirklichen Fichteschen und 
Hegelschen Vorstellungen, das, was der indische Denker da her- 
vorbrachte, wie ein rechter Dilettantismus heraus. Es war nichts 
anzufangen mit der Abhandlung, und das ist eine ganz naturliche 
Erscheinung. 

Wir konnen sagen: Da haben wir eine Personlichkeit vor uns, 
die sich ehrlich bemiiht, einzudringen in eine ganz andere, fur sie 
spatere Geistesrichtung, aber sie kann nicht durch die Hindernisse 
hindurch, welche die zeitliche Entwickelung geschaffen hat. Wenn 
sie aber ein Eindringen doch versucht, so kommt unwahres und un- 
mogliches Zeug zustande. Ich habe spater von einer anderen Person- 
lichkeit, die unbekannt ist mit demjenigen, was eigentlich europaische 
Geistesentwickelung in ihren Tiefen ist, einen Vortrag gehort, der in 
Anlehnung an diesen indischen Denker gehalten war. Es war dies 
eine europaische Personlichkeit, die, ganz unbekannt mit den Tiefen 



europaischer Entwickelung, gelernt hatte dasjenige, was von diesem 
indischen Denker vorgebracht worden war, und als besondere Weis- 
heit dieses unter ihren Anhangern vorbrachte. Die Anhanger haben 
natiirlich auch nicht gewuftt, daft man es zu tun hatte mit etwas, 
was auf ganz verkehrter verstandesmafiiger Grundlage beruhte. Fur 
denjenigen, der aber eindringen konnte, fur den war, was da mit- 
geteilt wurde von einer europaischen Personlichkeit, die gelernt hatte 
von dem Inder, zum An-die-Wande-Heraufkriechen - verzeihen Sie 
den Ausdruck es war einfach schrecklich! Es war ein Mifi ver- 
standnis, aufgepfropft auf einem anderen Mifiverstandnis. So schwie- 
rig ist es, ein Verstandnis zu gewinnen fur alles, was die Menschen- 
seele hervorbringen kann. Unser Ideal mufi es sein, alle geistigen 
Gipfelpunkte wirklich zu verstehen. Wenn man dies ins Auge fafit 
und es durchempfindet, dann wird man auf der einen Seite einen ge- 
wissen Lichtstrahl empfangen, wie schwer die Zugange zur Bhagavad 
Gita eigentlich sind; auf der anderen Seite aber gibt es Mifiverstand- 
nisse iiber Miftverstandnisse, die nicht weniger verhangnisvoll sind. 
Wir begreifen es vollstandig im Abendlande, wenn man im Morgen- 
lande aufsieht zu all den alten schdpferischen Geistern der friiheren 
Zeiten, deren Tatigkeit durch die Vedantaphilosophie, durch den 
Tiefsinn der Sankhyaphilosophie strdmt; wir begreifen, wenn der 
morgenlandische Geist mit Inbrunst hinaufsieht zu dem, was sieben, 
acht Jahrhunderte nach Begriindung des Christentums wie in einem 
Gipfelpunkt in Shankaracharya erscheint; wir begreifen das alles, 
aber wir miissen es anders begreifen, wenn wir wirklich zu einem 
tiefen Verstandnis kommen wollen. Wir haben es notig, noch mehr 
zu begreifen - und das miissen wir jetzt wie eine Art Hypothese auf- 
stellen, denn verwirklicht hat es sich noch nicht -, in der menschlichen 
Evolution. Nehmen wir einmal an, diejenigen, die da Schopfer ge- 
wesen sind jener grofien hohen Geistigkeit, welche die Veden durch- 
stromt, den Vedanta und die Philosophic des Shankaracharya, neh- 
men wir an, diese Geister wiirden in unserer Zeit wieder erschei- 
nen mit derselben Geistesbegabung, mit demselben Scharfsinn, mit 
dem sie dazumal in der Welt gestanden haben, und sie wiirden erlebt 
haben geistige Schopfungen wie die des Solovieff, Hegel und Fichte. 



Was wiirden sie gesagt haben? Wir setzen uns also in den Fall, daft 
es uns nicht darauf ankommt, was die Bekenner der Vedantaphilo- 
sophie, des Shankaracharya sagen, sondern was diese Geister selber 
gesagt haben wiirden. Ich bin mir vollkommen bewuftt, daft ich 
etwas sehr Paradoxes jetzt ausspreche, aber wenn man das tut, 
muft man an das denken, was einmal Schopenhauer geauftert hat: 
Es ist einmal das Schicksal der armen Wahrheit, daft sie immer 
paradox werden muft in der Welt, denn sie kann sich nun einmal 
nicht auf den Thron des Irrtums setzen. Da setzt sie sich denn auf 
den Thron der Zeit, da wendet sie sich an den Schutzengel der Zeit. 
Der hat so grofte, lange Flugelschlage, daft das Individuum dariiber 
hinwegstirbt. - Daher darf man nicht zuruckschrecken davor, daft 
die Wahrheit paradox klingen muft. Das ist paradox, aber eben wahr. 

Wenn aufstehen wiirden die Vedendichter, die Begriinder der 
Sankhyaphilosophie, ja, ich mochte sagen, wenn Shankaracharya 
selber erlebt hatte im 19. Jahrhundert die Schopfungen Solovieffs, 
Hegels, Fichtes, dann wiirden alle diese Geister gesagt haben: 
Was wir damals angestrebt haben, wovon wir hofften, daft es 
uns in unserer hellsichtigen Begabung erscheint, das haben im 19. 
Jahrhundert Solovieff, Hegel und Fichte geleistet durch die Art 
selbst ihres Geistes. Wir glaubten, wir miiftten hinaufsteigen in hell- 
seherische Hohen. Da hatten wir damals erscheinend, was wie selbst- 
verstandlich durch die Seele Hegels, Fichtes, Solovieffs gedrun- 
gen ist. - Paradox, aber wahr! Das klingt paradox fur die westlandi- 
schen Menschen, die in einer naiven Unbewufttheit nach den Morgen- 
landern schauen und sich neben sie stellen und dadurch miftver- 
stehen, was im Abendlande ist. Dadurch entsteht folgendes sonder- 
bare, groteske Bild. Wir denken uns die Vedendichter, wir denken 
uns die Begriinder der Sankhyaphilosophie, ja wir denken uns Shan- 
karacharya selber, in Begeisterung hinaufschauend zu Fichte und an- 
deren Geistern, und daneben denken wir uns eine Anzahl von Leu- 
ten heute, welche nicht achten die Geistessubstanz Europas und im 
Staube liegen vor Shankaracharya und seinen Vorgangern, sich aber 
nicht kummern um das, was Hegel, Fichte, Solovieff und andere ge- 
leistet haben! Das ist ein groteskes Bild, aber ein Bild, das in vollem 



Ernst der Wahrheit entspricht. Warum ist das so? Wenn wir alles, 
was die historischen Tatsachen uns darbieten, betrachten, so konnen 
wir diese Tatsachen nicht anders verstehen als durch eine solche Hy- 
pothese. Warum ist das so? 

Es wird uns erklarlich, wenn wir den Gang der Menschheksent- 
wickelung betrachten, hinaufschauen zu jenen Zeiten, aus deren Gei- 
stessubstanz die Bhagavad Gita stromte. Wie miissen wir uns da den 
Menschen eigentlich vorstellen? Etwa so konnen wir seine Seelen- 
verfassung darstellen: Dasjenige, was der Mensch heute in mannig- 
facher Beziehung vor sich hat im Traumbewufitsein, dieses Vorstel- 
len, dieser Inhalt der Seele, dieses Vorstellen in Bildern, war dazumal 
das gewohnliche Vorstellen, das Natiirliche, Alltagliche. Wir konnen 
also dieses gewohnliche Bewufitsein der damaligen Zeit Traumbe- 
wufitsein nennen, oder besser eigentlich traumhaftes Bewufitsein, 
traumhaftes Bilderbewufitsein; durchaus nicht so wie auf dem alten 
Monde, sondern entwickelt. Das war sozusagen die Seelenverfassung, 
aus der die Seelen hergekommen waren, in der absteigenden Ent- 
wickelungslinie. Vorher lag das, was fur uns heute schon ganz ver- 
deckt ist als allgemeines Bewufitsein: das Schlafbewufitsein, aus 
dem aber in alten Zeiten die wie traumhafte Inspiration kam, jenes 
Bewufitsein, das fur die Sphare unseres Bewufitseins wahrend des 
Schlafes zugedeckt ist. Es war dieses Bewufitsein etwas, was in das 
gewohnliche Bilderbewufitsein dieser alten Menschen sich etwa so 
hineinstellte, und zwar etwas seltener, wie fur uns das Traumbe- 
wufitsein. Aber es war noch in einer anderen Weise verschieden in 
jenen alten Zeiten. Unser Traumbewufitsein heute gibt ja im allge- 
meinen Reminiszenzen an das gewohnliche Leben. In jenen alten 
Zeiten aber, als dieses Bewufitsein noch hineinragte in die oberen 
Welten, da bot es auch Reminiszenzen der oberen, hoheren geisti- 
gen Welten. Dann kam dieses immer mehr herunter. 

Wer damals strebte in dem Sinne, wie wir es heute durch unsere 
okkulte Entwickelung tun, der strebte nach etwas ganz anderem. 
Wenn wir heute unsere okkulte Entwickelung durchmachen, dann 
sind wir uns bewufit, dafi wir einen Weg nach abwarts gemacht 
haben zum alltaglichen Bewufitsein, und streben nun nach aufwarts. 



Diese alten Strebenden strebten auch nach aufwarts. Das Traum- 
bewufksein stellte fiir sie den Alltag vor, von da aus strebten sie her- 
auf. Was erreichten sie denn da? Mit aller Anstrengung erreichten 
sie damals etwas ganz anderes, als wir erreichen wollen. Wenn man 
dazumal diesen Menschen dargeboten hatte das Buch, das ich in unse- 
rer Zeit zu schreiben versuchte: «Wie erlangt man Erkenntnisse der 
hoheren Welten?», dann hatten diese Menschen mit diesem Buche 
nicht das geringste anzufangen gewufk. Das ware in der damaligen 
Zeit eine Torheit gewesen, das hat nur einen Sinn fiir den heutigen 
Menschen. Dazumal bezweckte alles, was diese Leute mit ihrem Yoga, 
mit ihrem Sankhya taten, zu einer Hohe zu gelangen, die wir heute 
haben in den tiefsten Leistungen der heutigen Zeit, die wir heute 
haben eben bei Solovieff, Hegel und Fichte. Alles strebte herauf zum 
ideenhaften Erfassen der Welt. Das macht es, dafi derjenige, der die 
Sache eigentlich durchschaut, keinen rechten Unterschied findet, wenn 
man absieht von Empfindungen, Einkleidungen und Gemiitsstim- 
mung und vom Zeitkolorit, zwischen Solovieff, Hegel, Fichte und 
der Vedantaphilosophie. Nur war die Vedantaphilosophie damals 
dasjenige, zu dem man heraufstrebte, heute hat sich das herunter- 
gesenkt fiir das alltagliche Bewufitsein. 

Wenn wir eine Schilderung dieser unserer Seelenverhaltnisse ge- 
ben wollen, dann konnen wir es in folgender Weise tun. Zunachst 
haben wir dasjenige, was fiir den Inder noch hellseherisch durch- 
leuchtet war, fiir uns aber zugedeckt ist: das Schlafbewufttsein. Das- 
jenige, was wir anstreben, lag in der Zukunftsdunkelheit fiir jene 
alten Zeiten. Das ist die in unserem Sinne zu charakterisierende 
imaginative Erkenntnis, das vollbewufite, Ich-durchdrungene Bil- 
derbewufitsein, die vollbewufke Imagination, wie ich sie gemeint 
habe in meinem Buche: «Wie erlangt man Erkenntnisse der hoheren 
Welten?». Das ist zunachst das Abstrakte, was hier hineingefugt wer- 
den sollte. Aber es liegt etwas viel Wichtigeres in all dem Abstrakten, 
es liegt das darinnen, daft sozusagen fiir den Menschen, wenn er heute 
nur wirklich energisch sich der in seiner Seele vorhandenen Krafte 
bedient, dasjenige, was mit alien Kraften die Menschen der Bhaga- 
vad Gita-Zeit anstrebten, auf der Strafie zu finden ist. Das ist wirk- 



lich auf der Strafie zu finden, allerdings nur fiir einen Solovieff, 
Fichte, Hegel. Das liegt darinnen; aber es liegt noch etwas anderes 
darinnen. Das, was heute auf der Strafie gefunden wird, wurde da- 
mals mit aller Anwendung des Sankhyascharfsinnes und der Yoga- 
vertiefung erreicht. Dazu gelangte man mit aller Anstrengung der 
Seele, mit aller Erhebung des Gemiits. 

Und jetzt stellen Sie sich vor, wie eine Sache anders wird fiir 
einen Menschen, welcher zum Beispiel auf dem Gipfel eines Berges, 
auf dem ein Haus ist, lebt und einen herrlichen Ausblick immerfort 
geniefit, und wie ganz anders dieser Ausblick wird fiir einen Men- 
schen, der ihn noch nie gesehen hat, der ihn vom Tale aus erst mit 
aller Anstrengung erreichen mufi. Wenn man jeden Tag den Ausblick 
hat, so gewohnt man sich daran. Nicht im Begriffsinhalt liegt der 
Unterschied zwischen dem, was Shankaracharya, die Vedendichter 
und ihre Nachfolger geleistet haben, und dem, was Hegel und Fichte 
geleistet haben, nicht bei dem Inhalt, sondern darinnen, dafi Shanka- 
racharyas Vorganger vom Tale nach dem Gipfel strebten, und dafi 
ihr Scharfsinn, ihr Sankhyascharfsinn, ihre Yogavertiefung sie dahin 
fuhrten. In dieser Arbeit, in dieser Uberwindung der Seele, liegt das 
Erlebnis, und dieses Erlebnis machte die Sache, nicht der Inhalt. 
Das ist das ungeheuer Bedeutsame, das ist dasjenige, was einem in 
einer gewissen Beziehung zum Troste gereichen kann. Denn das, was 
der Europaer auf der Strafie finden kann, das achtet er nicht. Die 
Europaer nehmen das lieber in der Form, wie es in der Vedanta- 
oder Sankhyaphilosophie ihnen entgegentritt, weil sie dann unbe- 
wufit doch schatzen die Anstrengungen, die dazu fuhren. Das ist 
das Personliche an der Sache. 

Es ist ein Unterschied, ob man zu einem Inhalte kommt an dem 
oder jenem Orte, oder ob man aus dem angestrengten Bemiihen der 
Seele dahin kommt. Es ist etwas ganz anderes, ob man zu einem In- 
halte auf diese oder jene Weise gelangt, denn die Arbeit der Seele ist 
es, was der Sache das Leben gibt. Das miissen wir bedenken. Heute 
ist auf der Strafie zu finden, allerdings nur von Menschen wie die 
genannten Geister, was dazumal durch Shankaracharya und durch 
Yogavertiefung allein erlangt wurde. Da brauchen wir keine abstrak- 



ten Kommentare, da brauchen wir nur die Moglichkeit, uns umzu- 
stellen, erst hinein uns zu versetzen in das lebendige Empfinden von 
dazumal. Dann aber beginnen wir auch zu verstehen, daft die aufie- 
ren Ausdriicke selbst, das Aufiere der Ideen ganz anders noch erlebt 
wurde von den Menschen jener Zeit, als es noch von uns durchlebt 
werden kann. Nicht um abstrakte Kommentare zu geben, die pedan- 
tisch und schulmeisterlich sind, sondern um zu zeigen, wie die ganze 
Konfiguration des Fiihlens und Empfindens anders war in der Bha- 
gavad Gita als jetzt, mufi, jedoch nicht aufierlich philologisch, stu- 
diert werden, wie das eigentlich sich ausnimmt, was dem Empfinden, 
dem Fiihlen, der Gemiitsstimmung einer Seele angehort aus der Zeit, 
in die wir die Bhagavad Gita zu versetzen haben, einer Seele, die 
sich dazumal in die Bhagavad Gita hineinlebte. Trotzdem das ideen- 
hafte Erklaren der Welt, graphisch gesprochen, heute unten liegt - 
das, was damals oben gelegen hat -, trotzdem beides dasselbe ist: die 
Ausdrucksform ist eine andere, der Gedankeninhalt ist derselbe. Wer 
bei dem abstrakten Gedankeninhalte stehenbleiben mag, der wird 
finden, daft das Verstandnis ganz leicht ist. Wer aber das Erleben 
nacharbeiten will, der wird das nicht finden, der wird sich bemiihen 
mussen, den Weg mitzumachen, mitzufuhlen. Auf diesem alten Wege 
erst entstanden solche Begriffe, deren Verstandnis wir uns heute nur 
zu leicht machen: das sind die drei Begriffe - und ich lege gar keinen 
Wert darauf, wie sie als Begriffsideal enthalten sind in der Bhagavad 
Gita -, das sind die drei Begriffe, die in die Worte eingeflossen sind: 
Sattva, Rajas, Tamas. 

Was liegt eigentlich in diesen Worten? Ohne dafi man lebendig 
mitfiihlt mit dem, was in diesen Worten empfunden wurde, kann 
man keiner Zeile der Bhagavad Gita, namentlich der spateren Par- 
tien, mit dem richtigen Gefiihlston folgen. Es ist auf einer hoheren 
Stufe das Nicht-sich-hinein-fuhlen-Konnen in diese Begriffe unge- 
fahr so, wie wenn man ein Buch in einer Sprache lesen wollte, die 
man gar nicht versteht. Da handelt es sich nicht darum, durch einen 
Kommentar einen Begriff aufzusuchen, sondern dafi man die Sprache 
lernt. So handelt es sich hier nicht darum, auf kommentarhafte, 
schulmeisterliche Art zu interpretieren die Worte Sattva, Rajas und 



Tamas. In diesen Worten liegt das Empfinden der Bhagavad Gita- 
Zeit, etwas ungeheuer Bedeutsames, gleichsam ein Weg, der zum Ver- 
standnis der Welt und ihrer Erscheinungen fuhrte. Wenn man diesen 
Weg charakterisieren will, mufi man sich von vielem frei machen, 
was nicht bei den genannten Geistern zu finden ist, bei Solovieff, 
Hegel und Fichte, aber was in dem verknocherten sonstigen ab- 
strakten abendlandischen Denken liegt. Mit Sattva, Rajas, Tamas ist 
gemeint eine Art, wie man sich hineinleben kann in die verschie- 
denen Zustande des Weltendaseins, wie man auf den verschieden- 
sten Gebieten dieses Weltendaseins sich hineinleben kann. Es wiirde 
falsch, abstrakt sein, wenn man ganz auf der Basis des alten in- 
dischen Empfindens diese Worte interpretieren wollte. Es macht 
sich leichter, wenn man sie im wahren Sinne des damaligen Lebens 
nimmt, aber moglichst aus Erfahrungen unseres eigenen Lebens. Es 
ist besser, das aufiere Kolorit dieser Begriffe in freier Weise aus 
unserem eigenen Erleben zu nehmen. 

Sehen wir einmal auf die Art des Hineinlebens, die der Mensch 
vollzieht, wenn er verstandnisvoll eingehen will auf die drei Na- 
turreiche um ihn herum. Das ganze erkennende Verhalten zu den 
drei Naturreichen ist ja bei jedem einzelnen Naturreich verschie- 
den. Ich will kein erschopfendes Begreifen dieser Worte, ich will 
ein Sich-Nahern zu diesen Begriffen hervorrufen. Wenn der Mensch 
dem Mineralreich heute gegeniibersteht, so bekommt er ein Gefiihl, 
dafi er durch sein Denken dieses Mineralreich mit seinen Gesetzen 
durchdringt, er lebt mit ihm gewissermafien zusammen. Dieses Ver- 
standnis wiirde man in den alten Zeiten der Bhagavad Gita ein 
Sattvaverstandnis des Mineralreiches nennen. Verstandnis des Mine- 
ralreiches wiirde also ein Sattvaverstandnis sein. - Heute ist es bei 
dem Pflanzenreich schon anders; da wird uns immer der Wider- 
stand geleistet, dafi wir mit unserem heutigen Verstandnis nicht in 
das Leben dringen konnen. Die Naturreiche physisch und chemisch 
zu untersuchen und zu analysieren, das zu begreifen bedeutet heute 
ein Ideal. Einige Phantasten glauben allerdings heute, indem sie 
beliebig viel nach der aufieren Form hervorbringen, so dafi das 
ahnlich ausschaut dem Generationsprozefi, daft sie der Idee des 



Lebens nahergekommen seien. Das ist aber eine Phantasterei. Nicht 
bis zum Leben heran dringt der Mensch erkennend ein in das Pflan- 
zenreich; er dringt also nicht so absolut ein in das Pflanzenreich 
wie in das Mineralreich. Das Leben im Pflanzenreich kann man 
heute nur anschauen. Was man aber nur anschauen kann, worauf man 
mit seinem Verstandnis nicht eingehen kann, das ist Rajasverstand- 
nis. - Wenn wir zu den Tieren kommen, ist die Sache wieder anders. 
Jene Form des Bewufitseins, die im Tier ist, entzieht sich uns weit 
mehr noch fur das gewohnliche Verstandnis als das Leben der 
Pflanze. Was das Tier eigentlich lebt, wird nicht mit dem Erkennen 
erreicht. Das Verstandnis, das der Mensch heute mit seiner Wis- 
senschaft der Tierheit entgegenbringt, ist ein Tamasverstandnis. 

Es sei in bezug auf das Verstandnis des Menschen, wie er sich 
zu verhalten hat zu den Worten Sattva, Rajas und Tamas, noch 
ein Charakteristisches angefuhrt. Es gibt noch eine andere Seite des 
Verstandnisses fur den heutigen Menschen. Allerdings mufi da ein 
Verstandnis eintreten, das nicht nur nach Begriffen charakterisiert. 
Wenn man die wissenschaftlichen Vorstellungen von den Tatig- 
keitsformen der lebenden Wesen herannimmt, kommt man niemals 
zu einem Verstandnis. Schlaf zum Beispiel ist nicht dasselbe beim 
Menschen und im Tierreich. Wenn man den Schlaf definiert, hat 
man nicht viel mehr getan, als wenn man ein Messer, das zum 
Rasieren oder Bleistiftspitzen gebraucht wird, fur dasselbe halt wie 
ein Messer, das man zum Fleischschneiden braucht. Wenn wir uns 
aber ein Verstandnis offenhalten und uns noch von anderer Seite 
her den Begriffen Tamas, Rajas und Sattva nahern, so konnen wir 
aus unserem heutigen Leben noch etwas anderes anfiihren. Die 
Menschen nahren sich von verschiedenen Dingen, von Tieren, 
Pflanzen und Mineralien. Diese verschiedenen Nahrungsmittel wir- 
ken natiirlich auch verschieden auf die Konstitution des Menschen. 
Wir nahern uns wirklich dem Verstandnis von Tamas, Rajas und 
Sattva, wenn wir bedenken, daft der Mensch sich mit Sattvazustan- 
den durchdringt, wenn er Pflanzen ilk. Wenn er sie aber begreifen 
will, sind sie fur ihn ein Rajaszustand. Fur die Ernahrung ist also das 
Aufnehmen des Pflanzlichen der Sattvazustand; das Aufnehmen des 



Mineralischen, der Salze und so weiter ist der Rajaszustand; der Zu- 
stand, der durch das Fleischessen bewirkt wird, ist der Tamaszu- 
stand. Wir konnen also die Reihenfolge nicht beibehalten, wenn wir 
ausgehen von einer abstrakten Definition. Wir miissen uns unsere Be- 
griffe beweglich erhalten. Das ist nicht gesprochen, um bei denen 
einen Horror zu bewirken, die gezwungen sind, Fleisch zu essen. Ich 
werde Ihnen auch gleich ein anderes Gebiet nennen, wo das wieder 
anders ist. 

Nehmen wir an, jemand will aufnehmen die Aufienwelt nicht 
durch gewdhnliche Wissenschaft, sondern durch das fur unsere Zeit 
richtige Hellsehen, und nehmen wir an, ein solcher Mensch sei im 
Zustande des Hellsehens, und bringe dann die Erscheinungen und 
Tatsachen der Umwelt in sein hellsichtiges Bewufitsein hinein. Da 
miissen diese Erscheinungen und Tatsachen einen Zustand hervor- 
rufen wie die Erscheinung des gewohnlichen Verstandnisses fur die 
drei Naturreiche: also Sattva-, Rajas- und Tamaszustande. So rufen 
die Erlebnisse, die in das hellsichtige Erkennen kommen, Zustande 
in der Menschenseele hervor. Und zwar dasjenige, was in das reinste 
hellsichtige Erkennen kommen kann, was schon dem gelauterten 
Hellsehen entspricht, das ruft den Tamaszustand hervor. Tamas- 
zustand wird hervorgerufen durch das gelauterte - nicht im morali- 
schen Sinne gelauterte - Hellsehen. Und ein Mensch, der wirklich 
rein aufierlich schauen will die geistigen Dinge, mit dem von uns 
heute zu erlangenden Hellsehen, der mufi sich durch die hellsichtige 
Tatigkeit den Tamaszustand herstellen. Und dann fuhlt er, wenn er 
mit der Erkenntnis wieder zuruckkommt in die gewohnliche Welt, 
in der er jetzt augenblicklich auch seine hellseherische Erkenntnis 
vergifit, und dann in einen neuen Zustand der Erkenntnis kommt, 
dafi er in diesem Zustande in dem Sattvazustande ist. Sattvazustand 
ist also das alltagliche Erkennen in unserer heutigen Zeit. Und in 
dem Zwischenzustande des Glaubens, des Bauens auf Autoritat, ist 
man im Rajaszustand. Wissen in hohen Welten bewirkt in den Men- 
schenseelen den Tamaszustand; Wissen in der gewohnlichen Um- 
welt den Sattvazustand, Glaube, Bauen auf Autoritat, Bekenntnis 
bewirkt Rajaszustand. Wir sehen: Wer durch seine Organisation ge- 



zwungen ist, Fleisch zu essen, braucht sich wirklich nicht davor zu 
entsetzen, dafi das Fleisch ihn in einen Tamaszustand versetzt, denn 
das wird man auch durch das gelauterte Heilsehen. 

Was ist der Tamaszustand fur ein Zustand? Der Tamaszustand 
ist derjenige Zustand, in dem durch naturgemafie Vorgange irgend- 
ein Aufteres am meisten von dem Geiste befreit ist. Wenn wir den 
Geist als Licht bezeichnen, so ist der Tamaszustand der lichtlose Zu- 
stand, der finstere Zustand. So lange unser Organismus nun auf na- 
turgemafie Weise von Geist erfullt ist, sind wir im Sattvazustand, 
dem Zustand, in dem auch unsere Erkenntnis der aufieren Welt ist. 
Wenn wir schlafen, sind wir im Tamaszustand, aber wir miissen die- 
sen Zustand im Schlaf herbeifuhren, damit eben unser Geist von 
unserem Leibe sich entfernen kann, damit er in die hohere Geistig- 
keit um uns eindringen kann. Will man zu den hoheren Welten 
kommen - das sagt schon der Evangelist -, was die Finsternis des 
Menschen ist, so mufi die Natur des Menschen im Tamaszustande 
sein. Weil die Menschen aber im Sattvazustand sind, nicht im Tamas-, 
im finsteren Zustand, sind die Worte des Evangelisten: «Das Licht 
scheinet in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht begriffen», 
etwa zu ubersetzen: Und das hohere Licht drang heran an den Men- 
schen. Der war aber von einem naturgemafien Sattva erfullt und 
liefi es nicht heraus, deshalb konnte das hohere Licht nicht hinein, 
denn das hohere Licht kann nur in die Finsternis scheinen. - Weil 
das so ist, dafi sich sozusagen die Begriffe fortwahrend umdrehen, 
wenn wir bei so lebendigen Begriffen wie Sattva, Rajas und Tamas 
nach Erkenntnis suchen, deshalb miissen wir uns daran gewohnen, 
diese Zustande nicht absolut zu nehmen. Es gibt kein absolutes Tiefer 
oder Hoher bei der richtigen Auffassung der Welt, sondern nur im 
relativen Sinne. 

Ein europaischer Gelehrter hat Anstofi daran genommen. Es war 
ein Gelehrter, der selbst Tamas mit « Finsternis* iibersetzte, er hat 
Anstofi daran genommen, dafi ein anderer Sattva mit «Licht» iiber- 
setzte. Er iibersetzt Sattva mit «Gute». In solchen Dingen driicken 
sich alle Quellen der Mifiverstandnisse richtig aus, denn wenn der 
Mensch im Tamaszustand, gleichgiiltig ob er schlaft oder im hell- 



sichtigen Erkennen ist - wir wollen nur diese zwei Falle nehmen, wo 
der Mensch im Tamaszustande ist -, dann ist er in der Tat in bezug 
auf das Aufiere in der Finsternis. Daher hatte das alte Indertum recht. 
Es konnte aber nicht ein Wort nehmen wie «Licht» statt des Wortes 
«Sattva». Man darf immer Tamas mit «Finsternis» iibersetzen, 
doch ist in bezug auf die aufiere Welt der Sattvazustand kein 
solcher, der immer einfach mit «Licht» interpretiert werden konnte. 
Wenn wir davon sprechen, dafi wir das Licht charakterisieren wol- 
len, so ist es ganz richtig, dafi man die hellen Farben im Sinne der 
Sankhyaphilosophie - Rot, Orange, Gelb - die Sattvafarben nennt. 
Man raufi aber in diesem Sinne die Farbe Griin eine Rajasfarbe und 
die Farben Blau, Indigo, Violett Tamasfarben nennen. Das ist abso- 
lut richtig. Man kann sagen: Lichtwirkungen, Helligkeitserscheinun- 
gen gehoren im allgemeinen unter den Begriff der Sattvawirkung, 
aber unter den Begriff der Sattvaerscheinungen gehort zum Beispiel 
auch Giite des Menschen, liebevolles Verhalten des Menschen. Licht 
gehort zwar unter den Sattvabegriff, dieser Begriff ist aber weiter, 
Licht ist nicht eigentlich mit ihm identisch. Daher ist es falsch, Satt- 
va mit «Licht» zu iibersetzen, aber durchaus moglich ist es, Tamas 
mit «Finsternis» zu iibersetzen. Es ist auch nicht richtig zu sagen, 
dafi «Licht» den Sattvabegriff nicht trifft. Aber der Tadel, den der 
andere Gelehrte angedeihen laftt einem Menschen, der vielleicht ganz 
gut sich dessen bewulk ist, ist auch wieder nicht berechtigt, aus dem 
einfachen Grunde, weil schliefilich, wenn jemand sagt: Hier ist ein 
Lowe -, niemand ihn in der Weise belehren wiirde, dafi er ihm aus- 
einandersetzt: Nein, hier ist ein Raubtier. - Beides ist richtig. Das 
trifft den Nagel auf den Kopf. Es ist durchaus wahr, wenn einer 
sagt: Hier steht ein Lowe -, daft er auch ein Raubtier vor sich sieht. 
Ebenso ist es richtig, wenn jemand in bezug auf die aufiere Erschei- 
nung Sattva zu dem Lichtvollen zahlt, aber falsch ist es, nur zu dem 
Lichte «Sattva» zu sagen. Sattva ist ein iibergeordneter Begriff zu 
Licht, wie Raubtier ein iibergeordneter Begriff zu Lowe ist. Von der 
Finsternis gilt ein Ahnliches nur aus dem Grunde nicht, weil in dem 
Zustande des Tamas das, was sonst in den anderen Zustanden, in 
dem Rajas- und Sattvazustand sich spezifiziert, sich zu etwas mehr 



Allgemeinem ausgleicht. Schliefilich sind ein Lamm und ein Lowe 
zwei sehr verschiedene Wesen, und will ich sie charakterisieren in 
bezug auf ihre Sattvaeigenschaften, wie das naturgemafi kraftvolle 
Geistige lebendig im Lamm und Lowen besteht, so mufi ich diese 
beiden Tiere sehr verschieden charakterisieren. Will ich aber den 
Tamaszustand charakterisieren, so kommt das Verschiedene nicht in 
Betracht, denn der Tamaszustand ist eben einfach da, wenn das 
Schaf oder der Lowe faul daliegt. Im Sattvazustande sind Lamm 
und Lowe recht verschieden, aber fur das Weltverstehen ist Lowen- 
faulheit und Lammfaulheit schliefilich doch dasselbe. Die Moglich- 
keit, auf die Begriffe wirklich zu sehen, wird ganz anders werden 
miissen. Es gehoren in der Tat diese drei Begriffe mit den Gefuhls- 
tonen, die darinnen sind, zu dem Allerlichtvollsten des Sankhya. Und 
in allem, was Krishna dem Arjuna vorbringt, so dafi er sich darstellt 
als der Begriinder des selbstbewufiten Zeitalters, in alldem mufi er 
sprechen in Worten, die ganz durchdrungen sind von den Gefuhls- 
tonen, die hergenommen werden von den Begriffen Sattva, Rajas, 
Tamas. Von diesen drei Begriffen und von demjenigen, was dann zu 
einem Gipfel fiihrt in der Bhagavad Gita, sei dann noch im letzten 
Vortrage dieses Zyklus genauer gesprochen. 



NEUNTER VORTRAG 



Helsingfors, 5. Juni 1913 



Die Schlufipartien der Bhagavad Gita werden durchstromt von 
Empfindungen und Gefuhlen, die durchdrungen sind von Sattva-, 
Rajas- und Tamasbegriffen. Es mufi in diesen letzten Partien der 
Bhagavad Gita gleichsam das ganze auffassende Empfinden einge- 
stellt sein darauf, die Dinge, die einem da entgegentreten, im Sinne 
der Ideen von Rajas, Sattva und Tamas aufzufassen. Im vorigen 
Vortrage versuchte ich mehr mit Zuhilfenahme von Erlebnissen der 
Gegenwart diese drei wichtigen Begriffe zu zeichnen. Derjenige frei- 
lich, der die Bhagavad Gita vornimmt und sich in all das vertieft, 
der muE sich klar sein dariiber, daft seit jener Zeit, in welcher die 
Bhagavad Gita entstanden ist, sich die Begriffe etwas verschoben 
haben. Aber es wiirde dennoch nicht richtig gewesen sein, rein aus 
den wortlichen Ubertragungen der Bhagavad Gita die Begriffe Satt- 
va, Rajas, Tamas zu charakterisieren, aus dem einfachen Grunde, 
weil ja unsere Empfindungen verschieden sind von jenen und man 
doch nicht sich die ganz anderen Empfindungen aneignen kann. 
Wenn man so charakterisieren wollte, so wiirde man doch das Un- 
bekannte durch das Unbekannte charakterisieren. 

So werden Sie finden, dafi in bezug auf das Essen zum Beispiel 
in der Bhagavad Gita ein wenig verschoben sind die Begriffe, die 
wir im vorigen Vortrage entwickelt haben, weil alles das, was fur 
den heutigen Menschen von der Pflanzennahrung gilt, fur den Inder 
von jener Nahrung gait, die Krishna die milde sanfte Nahrung nennt, 
wahrend die Rajasnahrung, die wir als die mineralische Nahrung 
charakterisierten, wie es fur den jetzigen Menschen richtig ist - Salz 
gibt zum Beispiel den Charakter einer Rajasnahrung -, der Inder zur 
Bhagavad Gita-Zeit als das Sauere, das Scharfe bezeichnete. Und 
Tamasnahrung ist fur unsere Organisation im wesentlichen die 
Fleischnahrung. Der Inder bezeichnete damit eine Nahrung, die in 
unserer Zeit uberhaupt nicht recht als Nahrung aufzufassen ist, die 
allerdings eine gute Vorstellung gibt, wie anders die Menschen da- 



mals waren: Der Inder bezeichnete als Tamasnahrung das Faulgewor- 
dene, Abgestandene, Stinkende. Fur unsere heutige Inkarnation wiir- 
den wir nicht mehr gut das als Tamasnahrung bezeichnen konnen, 
denn die Organisation des Menschen hat sich bis in die Physis hinein 
verandert. 

So miissen wir gerade zum besseren Verstandnis dieser Grund- 
empfindungen der Bhagavad Gita von Sattva, Rajas und Tamas auf 
unsere Verhaltnisse reflektieren. Und wenn wir dann uns einlassen 
auf dasjenige, was eigentlich Sattva ist, so nehmen wir am besten zu- 
nachst den augenfalligsten Begriff von Sattva: Es ist der Mensch ein 
Sattvamensch, der in unserer Zeit sich hingeben kann einer Erkennt- 
nis, die so eindringlich ist wie eine Erkenntnis des mineralischen 
Reiches heute. Fur den Inder war ein Sattvamensch nicht ein solcher, 
der diese Art Erkenntnisse hat, sondern einer, der verstandnisvoll, 
klug im gewohnlichen Sinne, mit Kopf und Herz durch die Welt 
geht. Jemand, der unbefangen und vorurteilsfrei das aufnimmt, was 
ihm die Welterscheinungen darbieten, jemand, der so durch die Welt 
geht, daft er all sein Gehen durch die Welt mit dem verstandnisvol- 
len Auffassen dieser Welt begleitet, indem er das Licht der Begriffe 
und Ideen, das Licht der Gefuhle und Empfindungen, das von aller 
Schonheit und Herrlichkeit der Welt ausgeht, aufnimmt, jemand, der 
allem Hafilichen der Welt ausweicht, der eben in richtiger Weise sich 
ausbildet, jemand, der das tut der physischen Welt gegeniiber, ist 
ein Sattvamensch. Auf leblosem Gebiete zum Beispiel ist ein Sattva- 
eindruck der Eindruck einer nicht zu grellen Flache, so beleuchtet, 
dafi sie uns unterscheiden lafit die Einzelheiten der Farben in einer 
richtigen Helligkeit und dabei hellfarbig ist. Eine solche Flache ware 
der Sattvaeindruck von der Aufienwelt. Rajaseindruck ist derjenige, 
wo der Mensch in einer gewissen Weise gehindert ist, durch seine 
eigenen Emotionen, durch seine Affekte und Triebe, oder auch durch 
die Sache selber, vollstandig in die Sache einzudringen, in das, was 
er um sich hat, so daft er sich nicht hineinbegibt in den Eindruck, 
sondern ihm gegenubertritt mit dem, was er ist. Er lernt zum Beispiel 
das Pflanzenreich kennen: er kann das Pflanzenreich bewundern, 
aber er bringt seine Emotionen dem Pflanzenreiche entgegen und 



kann deshalb nicht in die Untergriinde des Pflanzenreiches eindrin- 
gen. Tamas ist da, wenn der Mensch ganz hingegeben ist dem Leben 
seiner Leiblichkeit, stumpf und apathisch ist demjenigen gegeniiber, 
was um ihn ist, so stumpf und apathisch, wie wir einem anderen Be- 
wufitsein gegeniiber hier auf dem physischen Plan sind. Wir wissen 
nichts von dem Bewufttsein eines Hundes, eines Pferdes, solange wir 
auf dem physischen Plan verweilen, auch nicht einmal von dem Be- 
wufitsein eines anderen Menschen. Da ist der Mensch im allgemeinen 
stumpf, da zieht er sich sozusagen in seine eigene Leiblichkeit zuriick, 
da ist er in Tamaseindriicken. Der Mensch mufi allmahlich so stumpf 
werden der physischen Welt gegeniiber, damit er die geistigen Welten 
hellsehend aufnehmen kann. So werden sich uns die Begriffe von 
Sattva, Rajas, Tamas am besten ergeben. In der aufieren Natur ware 
ein Rajaseindruck der Eindruck einer maflig hellen Flache, nicht in 
heller Farbe, sondern etwa griin, eine gleichmafiig griine Nuance. 
Eine dunkle Flache mit dunklen Farben ware ein Tamaseindruck. 
Da, wo der Mensch in die aufierste Finsternis des Weltenraumes hin- 
ausschaut, bringt er es, selbst wenn sich ihm der herrliche Anblick 
des freien Himmelsgewolbes darbietet, zu nichts anderem als zu der 
blauen, fast Tamasfarbe. Durchdringen wir uns mit den Empfindun- 
gen, die diese Ideenbestimmungen darbieten, dann konnen wir sie auf 
alles, was uns umgibt, anwenden, nicht nur in dem einen oder 
anderen Gebiete. Tatsachlich sind diese Ideen umfassend. Und 
das bedeutet fur den Inder der Bhagavad Gita-Zeit nicht nur ein 
gewisses Verstandnis der Aufienwelt selber, sondern auch ein gewis- 
ses Beleben des menschlichen Innenkernes: Bescheid zu wissen iiber 
die Sattva-, Rajas- und Tamasnatur der Umgebung. 

Der Inder empfand ungefahr in der folgenden Weise. Durch 
einen Vergleich will ich das klarmachen: Nehmen wir an, ein ein- 
facher, primitiver Mensch vom Lande sieht um sich herum die Natur, 
die Schonheit der Morgenrote, die Schonheit der Sonne, der Sterne, 
all dessen, was er eben sehen kann, aber er denkt nicht dariiber nach, 
er macht sich keine Vorstellungen und Begriffe der Welt; gleichsam 
im innigsten Einklang mit dem, was ihn umgibt, lebt er dahin. Wenn 
er anfangt sich zu unterscheiden mit seiner Seele von dem, was ihn 



umgibt, wenn er anfangt sich als Eigenwesen zu empfinden, dann 
mufi er das dadurch erreichen, daft er durch Vorstellungen von der 
Umgebung verstehen lernt seine Umgebung, daft er lernt sich abzu- 
sondern von der Umgebung. Es ist immer eine Art von Ergreifen der 
Wirklichkeit des eigenen Wesens, wenn man objektiv die Umgebung 
hinstellt. Der Inder der Bhagavad Gita-Zeit sagte: Solange man nicht 
durchschaut Sattva-, Rajas- und Tamaszustande der Umgebung, so- 
lange lebt man noch in seiner Umgebung, solange ist man in seinem 
Eigenwesen nicht selbstandig da, solange ist man verbunden mit der 
Umgebung, solange hat man sich nicht ergriffen in seinem Eigenwe- 
sen. Wenn aber einem die Umgebung so objektiv wird, daft man sie 
uberall verfolgt: das ist ein Sattvazustand, das ist ein Rajaszustand, 
und das ist ein Tamaszustand, dann wird man auch von ihr freier 
und immer freier und daher selbstandiger in seinem Wesen. Daher ist 
es ein Mittel zum Selbstandigwerden, in aller aufteren Natur, in allem, 
was aufterhalb des Geistes und der menschlichen Seele lebt, diese drei 
Zustande kennenzulernen. Ein Mittel, den Zustand des Selbstbe- 
wufttseins herbeizufuhren, ist, zu begreifen in allem, was uns umgibt, 
Sattva, Rajas, Tamas. Und im Grunde genommen kommt es dem 
Krishna darauf an, frei zu bekommen des Arjuna Seele von dem, 
was den Arjuna gerade in der entsprechenden Zeit umgibt. «Sieh ein- 
mal an», so will Krishna klarmachen, «was da alles lebt auf dem 
blutigen Schlachtfelde, wo Briider den Briidern gegenuberstehen. Du 
fiihlst dich mit alle dem verbunden, verschmolzen und dazugehorig. 
Lerne erkennen, daft alles, was da drauften ist, sich abspielt in Sattva-, 
Rajas- und Tamaszustanden. Dadurch wirst du dich davon abheben, 
unterscheiden, dadurch wirst du wissen, daft du nicht mit deinem hoch- 
sten Selbst dazugehorst, dadurch wirst du dein besonderes, von allem 
abgesondertes Wesen in dir erleben, du wirst den Geist in dir erleben.» 

Das gehort wieder zu den Schonheiten der kompositionellen Stei- 
gerung der Bhagavad Gita, daft wir am Anfange eingefuhrt werden, 
um mehr abstrakte Begriffe zu erfahren, daft diese abstrakten Be- 
griffe aber immer lebendiger und lebendiger werden und sich auf den 
verschiedensten Gebieten in Sattva-, Rajas- und Tamasbegriffen le- 
bendig gestalten, und dann die Absonderung des Seelenwesens von 



Arjuna sich gleichsam vor unserem geistigen Auge vollzieht. So er- 
klart Krishna dem Arjuna, man miifite loskommen von alledem, was 
in diesen drei Zustanden verlauft, loskommen von alledem, worin 
sonst die Menschen verschlungen und verwoben sind. Sattvamen- 
schen gibt es, die sind mit dem Dasein so verwoben, dafi sie an dem- 
jenigen hangen, was sie aus der Umwelt ziehen an gliickbringender 
Seligkeit. Diese Sattvamenschen durcheilen die Welt so, dafi sie 
durch ihre gluckliche Seligkeit saugen konnen aus alien Dingen, was 
sie selig macht. Rajasmenschen sind Menschen, die fleifiig sind, Taten 
tun, aber sie tun diese Taten, weil eine gute Tat oder diese oder jene 
Tat diese oder jene Folgen hat; sie hangen an den Folgen der Tat, 
sie hangen an der Tatenlust, das heifk an dem Eindruck, den die Tat 
macht. Die Tamasmenschen hangen an der Nachlassigkeit, Bequem- 
lichkeit, Faulheit; sie wollen eigentlich nichts tun. - So teilen sich die 
Menschen, und diejenigen Menschen, die mit ihrem Geiste, mit ihrer 
Seele verwoben sind in die aufieren Zustande, gehoren zu einer dieser 
Gruppen. Aber du sollst einen Einblick erhalten in das anbrechende 
Zeitalter des Selbstbewufitseins, du sollst absondern lernen deine 
Seele, du sollst weder ein Sattvamensch, noch ein Rajasmensch, noch 
ein Tamasmensch sein. - Dadurch ist der Krishna in der Bhagavad 
Gita der grofie Lehrer des menschlichen selbstandigen Ich, daft er so 
vorfuhrt die Absonderung des Ich von den Zustanden der Umgebung. 
Und auch gewisse Seelenbetatigungen erklart der Krishna dem Arjuna, 
nach den Zustanden Sattva, Rajas und Tamas verlaufend. Wenn 
aber der Mensch seinen Glauben hinauflenkt zu demjenigen, was die 
schdpferischen Gottwesen der Welt sind, so ist er ein Sattvamensch. 
Aber gerade in der damaligen Zeit, in welcher die Bhagavad Gita 
entstand, gab es Menschen, die gewissermafien gar nichts wufiten von 
den fuhrenden gottlich-geistigen Wesenheiten, die ganz hingen an den 
sogenannten Naturgeistern, an jenen Geistern, die hinter den un- 
mittelbaren Naturwesenheiten stehen: das sind die Rajasmenschen, 
die nur bis zu den Naturgeistern kommen. Die Tamasmenschen sind 
diejenigen, die in ihrer Weltkenntnis kommen zu dem, was man ge- 
spenstisch nennen kann, das dem Materiellen in seiner Geistigkeit 
am nachsten steht. 



Also auch in bezug auf das religiose Fiihlen sind die Menschen 
einzuteilen in Sattvamenschen, Rajasmenschen und Tamasmenschen. 
Wir wiirden in unserer Zek sagen konnen, wenn wir diese Begriffe 
anwenden wollen auf das religiose Gefuhl: Die zur Anthroposophie 
strebenden Menschen sind Sattvamenschen - ohne Schmeichelei -. 
Diejenigen Menschen, welche einem aufieren Glauben anhangen, sind 
Rajasmenschen. Und die, welche entweder materiell oder spirituell 
nur Korperhaftes glauben, die Materialisten und Spiritisten, sind 
Tamasglaubige. Der Spiritist fordert ja nicht geistige Wesenheiten, 
an die er glauben will. Er will ja gewifi an Geister schon glauben, 
aber er will nicht zu ihnen heraufgehen, er will, dafi sie zu ihm her- 
unterkommen, sie sollen klopfen, weil man Klopfen mit physischen 
Ohren horen kann, sie sollen in Lichtwolken erscheinen, weil man 
Lichtwolken mit physischen Augen sehen kann; das heifit, sie sollen 
nicht geistig, sondern materiell ausgestattet sein. In einer gewissen 
bewufken Weise sind solche Menschen Tamasmenschen. Das ist ganz 
im Sinne der Tamasmenschen der Krishnazeit. Es gibt auch unbe- 
wufite Tamasmenschen: Das sind diejenigen, die materialistische Den- 
ker sind, die ableugnen alles Geistige unserer Zeit. Eine materialisti- 
sche Versammlung redet sich heute ein, dafi sie aus Logik am Ma- 
terialismus festhalt. Das ist aber eine Tauschung. Materialisten sind 
Leute, die nicht aus logischen Griinden, sondern aus Furcht vor dem 
Geiste Materialisten sind. Aus Angstlichkeit vor dem Geiste leugnen 
sie den Geist, weil eben die Logik der unbewufiten Seele sie dazu 
zwingt, die zwar hinaufdringt, aber nicht durch die Pforte des Gei- 
stes schreiten kann. Die Furcht vor dem Geiste ist es, und derjenige, 
welcher die Wirklichkeit iiberschaut, sieht in einer materialistischen 
Versammlung, dafi jeder Materialist in den Untergriinden seiner Seele 
Furcht vor dem Geiste hat. Materialismus ist nicht Logik, sondern 
ist Feigheit gegeniiber dem Geiste. Und das, was er ausspinnt, ist 
nichts anderes als das Opiat, um diese Furcht zu betauben. In Wirk- 
lichkeit sitzt jedem Materialisten Ahriman im Genick, der Bringer 
der Furcht. Es ist eine groteske, aber eine griindlich ernste Wahrheit, 
die man, wenn man irgendwo in eine materialistische Versammlung 
geht, erkennt. Wozu ist eine solche Versammlung in Wahrheit ein- 



berufen? Die Maya ist, daiS die Leute reden von Weltanschauungen. 
In Wirklichkeit ist sie da, um Ahriman, um den Teufel wirklich zu 
beschworen, um Ahriman in ihre Gemacher hineinzulocken. 

Dieselbe Einteilung in bezug auf die Bekenntnisse gibt auch 
Krishna dem Arjuna, aber auch in bezug auf die Art, sich praktisch 
im Gebet zu den Gottern zu verhalten. Man kann des Menschen 
Seelenverfassung immer nach diesen drei Zustanden charakterisieren. 
Die Sattva-, Rajas- und Tamasmenschen unterscheiden sich ganz be- 
trachtlich in bezug auf die Art, wie sie zu ihren Gottern stehen. Die 
Tamasmenschen sind diejenigen, welche Priester sind, deren Priester- 
tum aber aus einer Art von Gewohnheit hervorgeht, die ihr Amt 
haben, aber keinen lebendigen Zusammenhang mit der geistigen 
Welt, die daher Aum und Aum und Aum wiederholen, weil eben 
dies zunachst aus der Dumpfheit, aus dem Tamaszustande des Ge- 
miites hervorstromt. Die Aum-Sager, das sind die Tamasmenschen 
auf dem Gebiete des Gebetes; sie stromen ihr Subjektives aus in dem 
Aum. Die Rajasmenschen sind diejenigen, welche hinschauen auf 
die Umwelt und schon eine Empfindung haben, dafi diese Um- 
welt wie etwas zu ihnen selbst Gehoriges werde, dafi diese Umwelt 
als mit ihnen verwandt verehrt werden musse. Es sind die Men- 
schen des «Tat», die Menschen, die das «Das», das Weltenall als 
mit sich verwandt anbeten. Die Sattvamenschen sind diejeni- 
gen, die einen Blick haben dafiir, dafi, was im Inneren lebt, eins 
ist mit dem, was in aller Welt uns umgibt. Es sind die Men- 
schen, die in ihrem Gebet den Sinn des «Sat», des All-Seins haben, 
des All-Seins und Eins-Seins aufien und innen, die den Sinn haben 
fur das Eins-Sein des Ojektiven und Subjektiven. Dafi derje- 
nige, der wirklich frei werden will mit seiner Seek, der weder in 
der einen noch in der anderen Beziehung blofi ein Sattva-, Rajas- 
oder Tamasmensch sein will, diese Zustande in sich selbst so verwan- 
deln mufi, dafi er sie wie ein Kleid an sich tragt, aber dariiber mit 
seinem eigentlichen Selbst herauswachst: das ist es, wo von Krishna 
sagt, dafi es erreicht werden mufi. Das ist es ja auch, was Krishna 
anregen mull als der Schopfer des Selbstbewufitseins. 

So steht Krishna vor Arjuna, ihn lehrend: Betrachte alle Zu- 



stande der Welt, betrachte sie mit dem, was dem Menschen das 
Hochste und Tiefste ist, aber werde vom Hochsten und Tiefsten der 
drei Zustande frei, werde in deinem Selbst ein dich selbst Ergreifen- 
der, lerne erkennen, daft du leben kannst, ohne daft du dich fiihlst 
mit Rajas, Tamas oder Sattva verbunden, lerne! - Das muftte man 
lernen dazumal, das war ein Anbrechen der Morgenrote, das Selbst 
frei zu bekommen. 

Aber auch auf diesem Gebiete ist dasjenige, was dazumal aufterste 
Anstrengung sein muftte, heute auf der Strafte zu finden. Und daft es 
auf der Strafte zu finden ist, ist vielfach die Tragik des heutigen 
Lebens. Heute sind die Seelen nur zu haufig, die in der Welt stehen 
und sich in der Seele verbohren und keinen Zusammenhang finden 
mit der Auftenwelt, die in den Gefuhlen und Empfindungen, in ihren 
inneren Erlebnissen einsame Seelen sind, die weder sich verbunden 
fuhlen mit einem Tamas-, Sattva- oder Rajaszustand, noch frei da- 
von sind, die eigentlich in die Welt hineingeworfen sind wie ein 
verzweifelt sich drehendes Rad. Diese Menschen, die in sich nur le- 
ben und die Welt nicht verstehen konnen, die ungliicklich sind, weil 
sie mit ihrer Seele ganz abgesondert sind von allem aufteren Dasein, 
sie stellen die Schattenseite jener Frucht dar, die Krishna bei Arjuna 
und alien seinen Zeitgenossen und Nachfolgern ausbilden muftte. 
Dasjenige, was hochstes Streben werden muftte fur Arjuna, fur viele 
heutige Menschen ist es hochstes Leid geworden. So andern sich die 
aufeinanderfolgenden Zeitalter. Und heute miissen wir sagen: Wir 
stehen am Ende desjenigen Zeitalters, das eingeleitet wurde damals, 
als die Bhagavad Gita-Zeit war. Damit ist etwas sehr Bedeutsames 
fur unsere Empfindung gesagt. Es ist aber auch damit gesagt, daft - 
gerade so wie in der Bhagavad Gita-Zeit diejenigen, die das Selbst- 
bewufttsein suchten, horen sollten, was Krishna dem Arjuna sagte - 
jene, die heute das Heil ihrer Seele suchen und die am Ende dieses 
Selbstbewufttseinszeitalters so dastehen, daft dieses Selbstbewufttsein 
in ihnen bis zur Krankhaftigkeit gesteigert ist, horen sollten auf das- 
jenige, was wiederum hinfuhrt zu einem Verstandnis der drei aufteren 
Zustande. Was aber fiihrt zu einem Verstandnis dieser aufteren Zu- 
stande hin? 



Setzen wir ein paar Vorstellungen noch voraus, bevor wir diese 
Fragen beantworten. Fragen wir noch: Was will denn Krishna in der 
Realitat sein fur den Arjuna, fur den Menschen, der sich in seiner 
Zeit richtig stellt zu den aufteren Zustanden? Was sagt Krishna in 
einer wunderbaren Weise, mit aller gottlichen Ungeschminktheit und 
gottlichen Ungeniertheit? Mit wirklicher gottlicher Unbefangenheit 
und Ungeniertheit enthiillt Krishna, was er sein will bis zu dieser 
Zeit. 

Wie konnte man denn leben in seiner Seele? Wir haben es dar- 
gestellt, wie ein bildhaftes Bewufksein die Seelen durchhellte, wie 
dariiber schwebte gleichsam, was heute das Selbstbewufitsein ist, das 
damals die Menschen anstreben muiken und das heute auf der Strafie 
zu finden ist. Fassen wir den Seelenzustand von dazumal, wie er war, 
bevor Krishna das neue Zeitalter eingeleitet hat, ins Auge. In dem 
bildhaften Bewufksein lebten die Seelen innerhalb der Welt, so dafi 
diese nicht klare Begriffe und Ideen hervorrief in den Seelen, son- 
dern Bilder wie die heutigen Traumbilder. Ein gewisses bildhaftes 
Bewufksein war die unterste Region des Seelenlebens, die von der 
oberen Region, von der Region des Schlafbewulkseins aus erhellt 
wurde durch die Inspiration. So war es mit diesen Seelen, und dann 
stiegen sie auf in die entsprechenden anderen Zustande. Und dieses 
Hinaufleben nannte man - und das ist der konkrete Begriff - das 
Sich-Einleben in Brahma. 

Heute von einer Menschenseele verlangen, sie solle sich einleben 
in Brahma, heute von einer Menschenseele das verlangen, die in west- 
lichen Landern lebt, das ist ein Anachronismus, ein Unding. Man 
konnte mit demselben Recht von einem Menschen, der auf der hal- 
ben Hohe eines Berges steht, verlangen, er solle auf dieselbe Weise 
hinaufkommen wie einer, der noch unten im Tale steht. Mit dem- 
selben Recht konnte man das verlangen, wie wenn man heute eine 
abendlandische Seele morgenlandische Ubungen machen lafit und sie 
eingehen lafit in Brahma. Dazu mufi man auf dem Bilderbewufkseins- 
standpunkte stehen, auf dem in einer gewissen Weise heute noch be- 
stimmte Morgenlander stehen. Wer Abendlander ist, der hat das, was 
die Bhagavad Gita-Menschen beim Heraufsteigen in Brahma fan- 



den, die Gefuhle, die der Morgenlander haben kann beim Eingehen 
in Brahma, schon in seinen Begriffen und Ideen. Es ist wirklich wahr: 
noch wiirde Shankaracharya die Ideenwelt von Solovieff, Hegel und 
Fichte als den Anfang des Hinaufsteigens in Brahma vorfiihren sei- 
nen ihn verehrenden Schiilern. Es kommt nicht auf den Inhalt, son- 
dern auf die Miihe des Weges an. Wir miissen uns vor allem verset- 
zen in jene Seelen, die dieses Heraufsteigen zu Brahma anstrebten. 

Das charakterisiert Krishna nun sehr schon, indem er auf ein 
Hauptmerkmal dieses Hinaufsteigens hinweist. Man mufi eine ganz 
andere Geistes- und Seelenkonstitution voraussetzen, wenn man die 
Seelen der Bhagavad Gita-Zeit begreifen will. Da ist alles passiv, 
da ist ein Sich-Aussetzen der Bilderwelt, da ist alles wie ein Sich- 
Hingeben an die stromende Bilderwelt. Man vergleiche damit unsere 
ganz andersartige gewohnliche Welt. Uns hilft die Hingabe nichts, 
um zum Verstandnis zu kommen. Allerdings gibt es viele Menschen, 
die am Zuriickgebliebenen noch hangen, die nicht heraufkommen 
wollen bis zu dem, was in unserer Zeit geschehen mufi. Aber das 
muE fur unser Zeitalter geschehen: wir miissen uns anstrengen, aktiv 
tatig sein, um die Begriffe und Ideen von der Umwelt zu bekommen. 
Da$ dies fehlt, ist ja die Misere unserer Erziehung! Wir miissen un- 
sere Kinder dahin erziehen, dafi sie dabei sind bei der Bildung ihrer 
Begriffe von der Umwelt. Aktiver mufi heute die Seele sein als da- 
mals, in der Zeit vor der Entstehung der Bhagavad Gita. So konnen 
wir es aufschreiben: 

Bhagavad Gita-Zeit = Aufsteigen zu Brahma in der 

Passivitat der Seele. 

Intellektuelle Zeit - unsere Zeit = Aktives Sich-Hinaufleben in die 

hoheren Welten. 

Was mufke also Krishna sagen, indem er einleiten will das neue 
Zeitalter, in dem allmahlich beginnen soil das aktive Erarbeiten des 
Weltverstandnisses? Er mufite sagen: Ich mu6 kommen, ich mufi dir, 
dem Ich-Menschen, eine Gabe geben, die dich anregt, aktiv zu sein. - 
Wiirde das alles wie bisher passiv geblieben sein, ware dieses Sich- 
Hingeben an die Welt ein Verstricktsein geblieben, so ware das neue 
Zeitalter nicht angebrochen. Alles das, was in der Zeit vor der 



Bhagavad Gita-Zeit zusammenhangt mit dem Eindringen der Seele 
in die geistigen Welten, nennt Krishna Hingabe. Alles ist Hingabe 
an Brahma. Alles das vergleicht er mit einem Weiblichen im Men- 
schen. Dasjenige, was das Selbst im Menschen ist, das Tatige, Aktive, 
was das Selbstbewufitsein erzeugen soil, was von innen ausstrahlt als 
der Quell des Selbstbewufitseins, das da kommen soil, nennt Krishna 
das Mannliche im Menschen. Was der Mensch in Brahma erreichen 
kann, muE von ihm, dem Krishna, befruchtet werden. Das sagt 
Krishna dem Arjuna, gleichsam die Lehre gibt er dem Arjuna: 
Brahmamenschen waren die Menschen bisher alle. Brahma ist alles 
dasjenige, was sich ausbreitet als der Mutterschofi der ganzen Welt. 
Ich aber bin der Vater, der kommt in die Welt, um den Mutterschofi 
zu befruchten. Und dasjenige, was dadurch entsteht, ist das Selbst- 
bewufitsein, das fortwirken soil in den Menschen und zu alien Men- 
schen kommen mufi. Das wird mit aller Deutlichkeit auseinander- 
gesetzt. Wie Vater und Mutter verhalten sich Krishna und Brahma 
in der Welt. Und was stiften sie? Sie stiften miteinander dasjenige, 
was der Mensch haben mufi im weiteren Verlauf seiner Evolution: 
das Selbstbewufksein, jenes Selbstbewufitsein, welches macht, dafi der 
Mensch als Einzelwesen immer vollkommener und vollkommener 
werden kann. Ganz und gar hat es das Krishna-Bekenntnis mit dem 
einzelnen Menschen, mit dem individuellen Menschen zu tun. Rest- 
lose Hingabe an die Krishna-Lehre bedeutet Streben nach Vervoll- 
kommnung des einzelnen Menschen. Wie kann diese Vervollkomm- 
nung aber nur erreicht werden? Sie kann so nur erreicht werden, 
dafi dieses individuelle Selbstbewufitsein, diese Gabe des Krishna, 
herauskommt durch Ablosen, durch das Ablosen des Selbstes von 
alledem, was mit den aufieren Zustanden behaftet ist. Lenken Sie den 
Blick hin auf diesen Grundnerv der Krishna-Lehre, darauf, dafi die 
Krishna-Lehre dem Menschen die Anweisung gibt, alles aufierlich 
in den Zustanden Lebende liegen zu lassen, frei zu werden von allem 
«Tat», von allem, was ablauft als das Leben in seinen verschiedenen 
Zustanden, und sich zu ergreifen nur in dem Selbst, um dieses Selbst 
immer weiter und weiter zu hoherer Vervollkommnung zu tragen. 
Lenken Sie den Blick hin darauf, dafi abhangt die Vervollkommnung 



davon, dafi der Mensch hinter sich lafk alle aufteren Konfigurationen 
der Dinge, dafi er sich schalt aus dem ganzen Aufienleben heraus, 
dafi er frei wird und in sich immer belebter wird. Selbstbewufitseins- 
streben als die Lehre des Krishna ergibt sich dadurch, dafi der Mensch 
sich losreifit von seiner Umgebung, nicht mehr fragt, was drauften 
sich vervollkommnet, sondern wie er sich vervollkommnen soil. 

Krishna, das heifit der Geist, der durch Krishna wirkt, erschien 
ja nun wiederum in dem Lukas-Jesusknaben aus der nathanischen 
Linie des Hauses David. In dieser Personlichkeit war also im Grunde 
alles dasjenige, was an Impulsen vorhanden war zur Verselbstandi- 
gung im Menschen, zum Loslosen von der aufteren Wirklichkeit. Was 
wollte denn der Krishna oder, sagen wir, diese nicht in die Mensch- 
heitsevolution eingetretene Seele, die im Krishna wirkte und dann 
im Jesusknaben des Lukas, was wollte sie eigentlich? Sie hat es er- 
leben miissen, dafi sie einstmals draufien bleiben mufite aus der 
Menschheitsentwickelung, weil der Gegner gekommen war, der Luzi- 
fer, der gesagt hat: «Eure Augen werden geoffnet werden, und ihr 
werdet unterscheiden das Gute und Bose und werdet sein wie Gott.» 
Im alten indischen Sinne trat Luzifer vor die Menschen und sagte: 
Ihr werdet sein wie die Gotter und werdet finden konnen die Sattva-, 
Rajas-, Tamaszustande in der Welt. - Luzifer hat die Menschen hin- 
gewiesen auf die Auftenwelt. So mufken die Menschen kennenlernen 
auf Anstiften des Luzifer das Auften, so mufken sie durch die Evo- 
lution hindurchgehen bis in die Christus-Zeit hinein. Da kam der- 
jenige, der damals zuriickgewichen war vor Luzifer, in Krishna und 
im Lukas-Jesusknaben. In zwei Etappen lehrte er nun dasjenige, was 
von der einen Seite her der Gegenpol sein sollte gegen die Luzifer- 
Lehre des Paradieses. Er hat die Augen euch offnen wollen fur die 
Sattva-, Rajas- und Tamaszustande. Schliefit die Augen vor den 
Sattva-, Rajas- und Tamaszustanden: dann werdet ihr euch als Men- 
schen, als selbstbewufke Menschen finden. - So tritt fur uns die 
Imagination auf: auf der einen Seite die Imagination des Paradieses, 
wo Luzifer der Menschen Augen offnet fur die Sattva-, Rajas- und 
Tamaszustande, und sich eine Weile zuriickzieht derjenige, welcher 
der Gegner des Luzifer ist. Dann machen die Menschen eine Ent- 



wickelung durch und kommen an den Punkt, wo ihnen in zwei 
Etappen eine andere Lehre vom Selbstbewufitsein entgegenkommt, 
aber so, dafi sie die Augen schlieften sollen vor den Sattva-, Rajas- 
und Tamaszustanden. Beides sind einseitige Lehren. Ware nur da- 
geblieben der Krishna-Jesus-Einflufi, dasjenige, was im Jesusknaben 
des Lukas lebte, dann ware nur die eine Einseitigkeit zu der anderen 
gekommen, dann hatte der Mensch Abschied genommen von allem, 
was ihn umgibt, er hatte alles Interesse auch an der aufieren Ent- 
wickelung verloren, dann hatte jeder nur seine eigene Vervollkomm- 
nung auf der Erde gesucht. Streben nach Vervollkommnung ist recht, 
aber das Streben, erkauft durch Interesselosigkeit an der ganzen 
Menschheit, ist eine Einseitigkeit, wie das Luziferische eine Einseitig- 
keit war. Daher trat das Allumfassende entgegen, der Christus-Im- 
puls, die hohere Synthese beider Einseitigkeiten. In der Person des 
Lukas-Jesusknaben selber lebte drei Jahre hindurch der Christus- 
Impuls, der in die Menschheit kam, urn diese beiden Einseitigkeiten 
zusammenzubringen. Durch die beiden Einseitigkeiten ware die 
Menschheit in die Schwachheit und Siinde gekommen: durch den 
Luzifer ware sie verurteilt zum einseitigen Leben in den aufieren Zu- 
standen Sattva, Rajas, Tamas; durch den Krishna sollte sie fur die 
andere Einseitigkeit erzogen werden: die Augen zu schliefien und nur 
die eigene Vollkommenheit zu suchen. Der Christus nahm auf sich 
die Siinde, er gab den Menschen dasjenige, was die beiden Einseitig- 
keiten ausgleicht. Er nahm auf sich die Versundigung des Selbstbe- 
wulkseins, das die Augen schliefien wollte gegentiber der Aufien- 
welt; er nahm auf sich die Siinde des Krishna und aller, die Krishnas 
Siinde begehen wollten. Er nahm auf sich die Luzifer-Sunde und 
aller, die sie begehen wollten, indem sie nur einseitig den Blick auf 
Sattva, Rajas und Tamas geheftet hielten. Indem er die Einseitig- 
keiten auf sich nimmt, gibt er den Menschen die Moglichkeit, all- 
mahlich wieder einen Zusammenklang zu finden zwischen Innen- 
und Aufienwelt, in welchem Zusammenklang allein das Heil der 
Menschen zu finden ist. 

Aber eine Entwickelung, die begonnen hat, kann nicht sogleich 
auslaufen. Die Entwickelung zum Selbstbewulksein, die begonnen 



hat mit dem Krishna, ist weiter gegangen, in gleicher Weise das 
Selbstbewufksein immer steigernd, immer mehr und mehr die Ent- 
fremdung von der Aufienwelt hervorrufend. Diese Entwickelung hat 
die Tendenz, weiter und weiter zu gehen auch in unserer Zeit. Zur Zeit, 
als der Krishna-Impuls vom Lukas-Jesusknaben aufgenommen wor- 
den ist, war die Menschheit gerade in dieser Entwickelung darinnen, 
das Selbstbewufitsein immer mehr noch zu steigern, sich der Aufien- 
welt immer mehr noch zu entfremden. Das war dasjenige, was die 
Menschen erfuhren, welche die Johannestaufe im Jordan empfingen. 
Sie sahen, wie das Selbstbewu£tsein auf dem Wege ist, immer star- 
ker und starker zu werden. Daher verstanden sie den Taufer, als er 
zu ihnen davon sprach: Andert den Sinn, wandelt nicht nur in der 
Krishna-Bahn. - Wenn er auch nicht das Wort gebrauchte: wir konnen 
diese Bahn, die damals eingeschlagen worden ist, die Jesus-Bahn nen- 
nen, wenn wir okkultistisch sprechen wollen. Und diese blofie Jesus- 
Bahn ist tatsachlich durch die Jahrhunderte immer weiter und weiter 
gegangen; denn auf vielen Gebieten des menschlichen Kulturlebens 
in den Jahrhunderten, die auf die Begriindung des Christentums 
folgten, war nur eine Anlehnung an Jesus vorhanden, nicht an den 
Christus, der in dem Jesus drei Jahre lebte, von der Johannestaufe 
an bis zum Mysterium von Golgatha. Eine jede Entwickelungslinie 
aber treibt sich bis zu einer gewissen Spannung. Immer mehr wurde 
diese Sehnsucht nach individueller Vervollkommnung dahin getrie- 
ben, dafi die Menschen in einer gewissen Weise ins Tragische gerieten, 
sich immer mehr und mehr von der Gottlichkeit der Natur, von der 
Aufienwelt entfremdeten. Heute haben wir ja vielfach dieses Tragi- 
sche der Entfremdung von der Umgebung so, dafi viele Seelen unter 
uns herumgehen, die nicht mehr viel von ihr verstehen. Deshalb 
mufi gerade in unserer Zeit das Verstandnis des Christus-Impulses 
einschlagen: die Christus-Bahn muE zur Jesus-Bahn hinzukommen. Es 
war die Bahn des einseitigen Vervollkommnungsstrebens zu stark ge- 
worden. In unserer Zeit erst ist sie so, dafi die Menschen in vieler 
Beziehung ganz fern stehen der Gottlichkeit der Umgebung. Weil, 
wenn irgendeine Richtung auftritt, sie sich sogleich iiberspannt, 
und die Sehnsucht nach dem Gegenteil erwacht, fiihlen in unserer 



Zeit viele Seelen, wie wenig der Mensch heute aus dem gesteigerten 
Selbstbewufitsein herauskommen kann. Das erzeugt den Drang, die 
Gottlichkeit der Aufienwelt zu erkennen. Und in unserer Zeit ist es 
so, dafi gerade solche Seelen das durch die wahre Anthroposophie ge- 
offnete Verstandnis des Christus-Impulses suchen werden, des Chri- 
stus-Impulses, der nicht blofi die einseitige Vervollkommnung der 
einzelnen Menschenseele will, sondern der ganzen Menschheit, der 
dem ganzen Menschheitsprozefi angehort. Den Christus-Impuls ver- 
stehen heifk nicht bloft streben nach Vervollkommnung, sondern 
auch in sich aufnehmen etwas, was wirklich getroffen wird mit dem 
Pauluswort: «Nicht ich, sondern der Christus in mir.» «Ich», das 
ist das Krishna- Wort; «Nicht ich, sondern der Christus in mir» ist 
das Wort des christlichen Impulses. So sehen wir, wie eine jegliche 
menschliche Geistesstromung ihre gewisse Berechtigung hat. Nie- 
mand kann sich denken, daft der Krishna-Impuls hatte ausbleiben 
konnen, aber niemand sollte jemals daran denken, dafi einmal eine 
menschliche Geistesstromung in ihrer Einseitigkeit eine Vollberechti- 
gung habe. Die beiden Einseitigkeiten, die luziferische und die Krishna- 
Stromung, mufiten im hoheren Sinne ihre Einheit finden in der 
Christus-Stromung. 

Derjenige, der in wirklich anthroposophischem Sinne verstehen 
will das, was heute walten raufi als notwendiger Impuls der weiteren 
Entwickelung der Menschheit, der mufi in Anthroposophie das In- 
strument sehen, das hineinleuchten kann in alle Religionen. Auch in 
diesem Zyklus versuchten wir zu zeigen, wie die menschliche Evolu- 
tion weiterschreitet und die einzelnen Stromungen ihren Zuflufi zu 
dieser gemeinsamen Evolution senden. Ein dilettantisches Beginnen 
ware es, wenn jemand das, was im Christentum sich findet, wieder- 
finden wollte im Krishnatum. So betrachtet, versteht man diese Dinge 
erst, versteht erst, was es heifit, Einheit zu suchen in alien Religionen. 
Man kann das auch auf andere Weise. Man kann immer wieder de- 
klamieren: In alien Religionen ist dieselbe Grundwesenheit enthalten. 
- Das wiirde das gleiche bedeuten wie: dieselbe Grundwesenheit ist in 
der Wurzel, in dem Stamm, in den Blattern, in den Bliiten, in den 
Staubgefafien und in der Frucht enthalten. - Das ist wahr, aber das 



ist eine abstrakte Wahrheit. Es ist nicht geistreicher, als wenn man 
sagt: Was braucht man Unterschiede? Salz, Pfeffer, Essig, Milch 
stent doch alles auf dem Tisch, alles ist eins, denn alles ist Stoff. - 
Da merkt man nur das Abstrakte, Unzulangliche einer solchen Be- 
trachtungsweise. Das merkt man aber nicht sogleich auf dem Gebiete 
der Religionsvergleichung. Es geht nicht, so abstrakt das Chinesen- 
tum, das Brahmanentum, das Krishnatum, das Buddhatum, das Per- 
sertum, das Mohammedanertum und das Christentum zu vergleichen, 
zu sagen: Seht, iiberall dieselben Prinzipien, iiberall ein Erloser! - 
Die abstrakten Dinge kann man iiberall suchen: es ist dilettantisch, 
weil es unfruchtbar ist. Man kann fur das Leben Gesellschaften, 
Vereine griinden, in denen man das Studium aller Religionen vor- 
fiihrt und das Studium dann so betreibt, wie wenn eben jemand 
sagen wiirde: Pfeffer, Salz, Essig und 01 seien eins, weil sie auf dem 
Tische stehen, weil sie alle Stoff sind. - Darauf kommt es nicht an. 
Darauf kommt es an, dafi man die Dinge in ihrer Wahrheit, in ihrer 
Wirklichkeit betrachtet. Einer Betrachtungsweise, die so weit zum 
okkulten Dilettantismus sich versteigt, dafi sie immer wieder die 
Gleichheit aller Religionen deklamiert, kann es ja auch gleich sein, 
ob das, was im Christus-Impuls lebt, der Schwerpunkt ist in der 
Menschheitsentwickelung, oder ob das in irgendeinem Menschen, den 
man auf der Strafie oder sonstwo auftreibt, wieder erscheint. Wer 
aber aus der Wahrheit heraus leben will, fur den ist es ein Greuel, in 
Zusammenhang zu bringen irgend etwas anderes mit demjenigen 
Impuls in der Weltgeschichte, der mit dem Mysterium von Golga- 
tha verknupft ist und fur den der Christus-Name aufbewahrt wor- 
den ist als das, was er in Wahrheit ist: der Mittelpunkt der Erden- 
evolution. 

In diesen Vortragen versuchte ich Ihnen ein Bild zu geben an 
einem besonderen Beispiel, versuchte ich an diesem Beispiel zu zeigen, 
wie der gegenwartige Okkultismus erstrebt, Licht zu werfen auf die 
verschiedenen Geistesstromungen, die im Verlaufe der Menschheits- 
evolution aufgetreten sind, die jede einen berechtigten Angriffspunkt 
haben, die man aber so unterscheiden mufi, wie man den Stengel 
vom griinen Blatt, das griine Blatt vom gefarbten Blumenblatt unter- 



scheiden mufi, obwohl alle diese zusammen wieder eine Einheit be- 
deuten. Wenn man mit diesem wahrhaft modernen Okkultismus ver- 
sucht, selber mit seiner Seele einzudringen in dasjenige, was in den 
verschiedenen Stromungen in die Menschheit geflossen ist, dann er- 
kennt man, daft wahrhaftig die einzelnen Religionsbekenntnisse nichts 
dabei verlieren, nichts an Grofte, nichts an Erhabenheit. Welche er- 
habene Grofte ist uns in der Gestalt des Krishna entgegengetreten 
auch da, wo wir ihn nur im Sinne der konkreten Erfassung der 
Menschheitsevolution in diese Menschheitsevolution hineinzustellen 
versuchten! Es ist eine jede solche Betrachtung, die man nur skizzen- 
haft geben kann, unvollkommen genug, gewift recht, recht unvollkom- 
men. Sie konnen aber versichert sein, niemand ist mehr iiberzeugt 
von der Unvollkommenheit dessen, was hier wiederum gegeben wurde, 
als der, welcher sich erlaubte, hier vor Ihnen zu sprechen. Aber was 
angestrebt worden ist, das ist, Ihnen ein wenig zu zeigen, wie wahre 
Betrachtung der einzelnen Geistesstromungen der Menschheit zu ge- 
schehen hat. Gerade an einem uns fern stehenden Geistesprodukt, 
an der Bhagavad Gita, versuchte ich anzukniipfen, um zu zeigen, wie 
der abendlandische Mensch schon empfinden und fuhlen kann, was er 
dem Krishna verdankt, was Krishna heute noch als Nachwirkung 
bedeutet fur sein Aufstreben in der Welt. Aber auf der anderen Seite 
muft die Geistesrichtung, die hier vertreten wird, verlangen, daft man 
liebevoll auf die Selbsteigenheit einer jeden Stromung ganz konkret 
eingehe. Das hat eine gewisse Unbequemlichkeit, denn das bringt 
einem die bescheidene Idee nur allzunahe, wie wenig man doch eigent- 
lich in diese Tiefen eindringt. Und es folgt die andere Idee allerdings 
auch in unserer Seele: daft wir immer weiter streben miissen. Beides 
Unbequemlichkeiten! Diejenige Geistesstromung, die hier Anthropo- 
sophie genannt wird, sie macht vielen Seelen - dazu ist sie verurteilt — 
gewisse Unbequemlichkeiten. Sie verlangt ein energisches Eintreten 
in die konkreten Tatsachen des Weltengeschehens, zugleich aber auch, 
daft man sich in seiner Seele sagt: Ich kann ja zu Hoherem kommen, 
ich will auch dahin kommen, aber ich habe doch nur immer einen 
Standpunkt erreicht, ich muft immer weiter und weiter streben. Nie- 
mals ein Ende! 



So war es ja immer mit einer gewissen Unbequemlichkeit ver- 
kniipft, zu derjenigen Geistesstromung zu gehoren, welche durch uns 
versucht, in das, was man anthroposophisches Leben nennt, sich hin- 
einzustellen. Unbequem war es ja, daft man gar bei uns streben lernen 
sollte, lernen soil, urn endlich dahin zu kommen, immer tiefer und 
defer in die heiligen Geheimnisse hineinzuschauen. Aber wir konnten 
nicht aufwarten mit etwas so Bequemem, das sich ergeben wiirde, 
wenn wir irgendeinen Sohn oder auch eine Tochter genommen hatten 
und sie vorgefiihrt und gesagt hatten: Ihr braucht nur warten: in 
diesem Sohn oder in dieser Tochter wird das Heil physisch verkor- 
pert erscheinen. - Das konnten wir nicht, das ging wirklich nicht, 
denn wir mufiten wahr sein. Und doch, fur den, der die Sache 
durchschaut, ist schliefilich alles das, was da zuletzt zutage getreten 
ist, nur die letzte, groteske Konsequenz jener dilettantischen Reli- 
gionsvergleicherei, die sich auch so bequem hinstellen lafit, und die 
immer mit der Selbstverstandlichkeit auftritt, mit der auftersten Tri- 
vialitat auftritt: Alle Religionen enthalten dasselbe! 

Die letzten Wochen und Monate haben immerhin gezeigt - und 
daft ich vor Ihnen hier sprechen konnte liber ein so bedeutungsvol- 
les Thema, hat es neu gezeigt — , dafi sich eben doch ein Kreis von 
Menschen findet in der Gegenwart, wenn es darauf ankommt, die 
spirituellen Wahrheiten zu suchen. Uns wird es auf nichts anderes 
ankommen, als diese spirituellen Wahrheiten zu vertreten. Ob nun 
viele oder alle von uns abfallen, das wird nichts andern an der 
Art, wie man die spirituellen Wahrheiten hier vertritt. Die hei- 
lige Verpflichtung zur Wahrheit, sie wird die Stromung, von 
welcher aus auch dieser Zyklus gehalten worden ist, leiten und 
lenken. Und wer mitmachen will, mufi es tun unter den Be- 
dingungen, die nun einmal notwendig geworden sind. Bequemer 
ist es allerdings, in anderer Weise zu verfahren, nicht so einzu- 
gehen auf die andere Seite, wie wir es tun, indem wir wirk- 
lich aufmerksam machen auf alles, wie es in der Realitat ist. 
Aber das gehort ja eben auch schon zur Wahrheitsverpflichtung. 
Einfacher ist es, den Menschen mitzuteilen die Gleichheit der Re- 
ligionen, die Einheit der Religionen, den Menschen zu verkiinden, 



dafi sie warten sollen, bis sich ein Heiland verkorpert, den man vor- 
bestimmt, den man nicht aus sich selbst, sondern auf Autbritat hin 
anerkennen soli. Das aber werden die menschlichen Seelen der Gegen- 
wart selber zu entscheiden haben, inwieweit die reine Hingabe an das 
Streben nach Wahrhaftigkeit eine geistige Stromung tragen und hal- 
ten kann. Es mufite schon einmal in unserer Zeit zu jener scharfen 
Scheidung kommen, die dadurch eingetreten ist, daft die Prasidentin 
sich zuletzt soweit selber demaskiert hat, diejenigen, die nichts weiter 
wollten, als fur das Wahre, Echte in der Menschheitsevolution aus 
Wahrhaftigkeit einzutreten, als Jesuiten zu bezeichnen. Es ist ja 
dieses auch eine bequeme Art gewesen, sich zu scheiden, aber es ist die 
aufiere Dokumentierung gewesen des Arbeitens mit objektiver Un- 
wahrheit. Dafi bei uns nicht in einer einseitigen Ideenrichtung gear- 
beitet worden ist, das moge Ihnen auch dieser Vortragszyklus wieder- 
um gezeigt haben, der Gegenwart, Vergangenheit und Vorvergangen- 
heit beherzigt, um den wahrhaftigen einzigen Grundimpuls der 
Menschheitsevolution zeigen zu konnen. So darf ich wohl auch hier 
sagen, wie es mich selber, der ich diesen Zyklus habe halten durfen, 
mit tiefster Befriedigung erfiillt, dafi Hoffnung vorhanden ist - und 
dafi Sie hier sitzen, ist ein Beweis dafiir -, noch Menschenseelen zu 
finden, welche den Trieb, die Neigung, die Hinlenkung haben zu 
dem, was auch auf ubersinnlichem Gebiete mit nichts anderem ar- 
beitet als mit der blofien ehrlichen Wahrhaftigkeit. 

Ich mufi schon dieses Schlufiwort noch anfiigen an den Vor- 
tragszyklus, weil es im Grunde doch notwendig ist in Anbetracht 
alles dessen, was uns entgegengetreten ist im Laufe der Zeit bis zu 
dem Zeitpunkte, wo man uns aus der Theosophischen Gesellschaft 
ausgeschlossen hat. In Anbetracht alles dessen, was uns getan wor- 
den ist und was jetzt in zahlreichen Broschiiren in sein Gegenteil 
verkehrt wird, mufite ich dies zum Ausdruck bringen, obwohl mich 
die Besprechung dieser Dinge immer aufierordentlich schmerzhaft be- 
riihrt. Aber es ist notwendig, dafi diejenigen, die mit uns arbeiten 
wollen, wissen, daft wir zu unserer Devise haben: unbedingtes, beschei- 
denes, aber ehrliches Wahrheitsstreben hinauf in die hoheren Welten. 



□ □ Die Illifglleder der □ □ 

Hnfftroposophisctien Gesellsdiaff 

werden hiermit freundschafflich einge* 
laden zu dem Vorfrags»Cyklus, den 

Berr Dr. Rudolf Sfeiner 

in Belsingfors abhalfen wird in derZeif vom 
28 mat bis zum 5 3unl fiber das Chema: 

f) ie okkulten g rundlagen der 
Rhagauad gita 

Karten ffir den Cyklus a Fmk 15 (=12 Rmfc) sind 
zu haben vom 25 ITlal an faglich yon 6 — 7 Uhr in der 
Ceos. Bibliofheke, Boulevardsfr. 7 wobei die niifglieds- 
karfe yorzuzeigen 1st. 

Die Vorfrdge finden staff abends 8 Uhr im Rations- 
haus der Osferboffnischen Sfudenfen, ITluseumsfr. 10. 

Hnmeldungen, bez. Fragen sind zu richfen an Dr. Gduard 
Seiander, V. Shausse" 10, Belsingfors, Finland. 

flnf hroposophen in Belsingfors. 




Bofels und Pensionen. 

Bofel Kleihne, Kafrlnesfr. 1. Bofel Patria, Hlexanderssfr. 17 fl. 

niissionshotel, 0. Benrikssfr. 9. Pension flndersson, HIexanderssfr. W. 

ehristliches Bospiz, Bergsfr. 17. Pension Central, HIexanderssfr, 46. 

Bofel Bristol, Unionsstr. 15. 



HINWEISE 



2» dieser Ausgabe 

Die in diesem Bande abgedruckten Vortrage hatten urspriinglich in St. Petersburg 
stattfinden sollen. Doch der «Heilige Synod» der Russisch-Orthodoxen Kirche 
als die dafiir zustandige Behorde verweigerte die Bewilligung fiir die Einreise. So 
mufite der Zyklus nach Finnland verlegt werden, das zwar damals auch zum 
Russischen Reich gehorte, fiir das aber weniger strenge Gesetze galten als fiir das 
eigentliche RuGland. 

Uber die Zusammensetzung der Zuhorerschaft bei diesen Vortragen sei hier ein 
Abschnitt zitiert aus einem Bericht von Kurt von Wistinghausen liber ein Ge- 
sprach mit Marie Steiner vom Marz 1927, in dem die mit dem Zyklus verknupften 
Umstande dargestellt wurden: 

«Zu den Zyklen Rudolf Steiners in Helsinki (Helsingfors) uber Die geistigen 
Wesenbeiten in den Himmelskorpern und Naturreicben im April 1912 und na- 
mentlich dem uber Die okkulten Grundlagen der Bhagavad Gita im Juni 1913 (an 
letzterem hat N. A. Berdjajew teilgenommen) erschienen namlich nicht nur 
Anthroposophen aus dem ganzen damaligen Rutland, sondern eben auch manche 
sonst geistig interessierte Personlichkeiten aus dem verhaltnismaftig nah gelegenen 
St. Petersburg (Leningrad). Die dortigen Anthroposophen standen mit Denkern, 
Dichtern, bildenden Kunstlern der Hauptstadt des Zarenreiches in lebhaftem 
Austausch und hatten sie auf die bevorstehenden Vortrage Rudolf Steiners auf- 
merksam gemacht. Bei manchen fiihrte die Teilnahme zu vertieftem Interesse, bei 
andern zu einer mehr oder weniger heftigen Abwehr.» 

(Aus: «Nachrichtenblatt» Nr. 24 vom 13. Juni 1971) 

Fiir den Inhalt und den Duktus der Vortrage ist von Bedeutung, dafi ein halbes 
Jahr vorher die Trennung der Anthroposophischen von der Theosophischen 
Gesellschaft stattgefunden hatte und daft in jener Zeit der inhaltlich verwandte 
Zyklus «Die Bhagavad Gita und die Paulusbriefe» (GA 142) gehalten worden war. 
(Siehe auch die Hinweise zu den Seiten 158 und 159.) 

Der Titel des Bandes ist identisch mit dem Titel des Zyklus. 

Textgrundlagen: Die Vortrage wurden stenographisch aufgenommen und vom 
Stenographen in Klartext ubertragen. Der Nachschreibende ist nicht bekannt, 
Stenogramme liegen nicht mehr vor. Der Text dieser Auflage folgt, wie alle 
vorangehenden Auflagen, der ersten, grofiformatigen Zyklenausgabe von 1914. 



Hinweise zum Text 



Werke Rudolf Steiners innerhalb der Gesamtausgabe (GA) werden in den Hinweisen mit 
der Bibliographie-Nummer angegeben. Siehe auch die Ubersicht am Schlufi des Bandes. 

Zu Seite 

9 das letze Mai bier zu Ihnen sprechen durfte: «Die geistigen Wesenheiten in den 
Himmelskorpern und Naturreichen», 11 Vortrage, gehalten in Helsingfors 3.-14. 
April 1912, GA 136. 

11 Wilhelmvon Humboldt, 1767-1 835, Sprachforscher, Politiker und Kulturphilosoph. Er 
wirkte 1 809 -1 8 1 9 impreufiischen Staatsdienst als Leiter des Kultus- und Unterrichtswe- 
sens, als Vertreter Preuftens am Wiener Kongrefi und als Gesandter in London. Spater 
widmete er sich ganz seinen vielseitigen Forschungen. In seinen friihen Jahren lebte er in 
Erfurt und Weimar, wo er eng befreundet war mit Goethe und besonders mit Schiller. 
1826 schrieb er die Abhandlung «Uber die unter dem Namen Bhagavadgita bekannte 
Episode des Maha-Bharata». Die von Rudolf Steiner erwahnte Stelle f indet sich in einem 
Brief an August Wilhelm Schlegel vom 2 1 . Juni 1823 und in einem Brief an Gentz vom 1 . 
Marz 1828. 

des beruhmten Kosmos-Schreibers: Alexander von Humboldt (1769-1859), zu seiner 
Zeit sehr geachteter Naturforscher und Schriftsteller. Er bereiste in den Jahren 
1799-1804 weite Teile Sudamerikas und Mexikos. Sein Hauptwerk «Kosmos», das 
1845-1862 in funf Banden erschien, ist eine Beschreibung dieser Reisen und der dabei 
gemachten naturwissenschaftlichen Beobachtungen und Entdeckungen. Er versuchte 
in diesem Werk, den Geist des klassischen Idealismus mit dem der emporbluhenden 
exakten Naturwissenschaften zu verbinden. 

12 das ganze Gewebe des «Mababbarata»: Das Nationalepos der Inder, das in verschie- 
denen Fassungen uberliefert ist. Es schildert die Kampfe zwischen den miteinander 
verwandten Parteien der «Kauwara» und der «Pandawa». Es enthalt aber auch viele 
religiose und sittliche Betrachtungen sowie einzelne in sich geschlossene Episoden wie 
den Roman «Nala und Damajanti» und die «Bhagavad Gita». Als wahrscheinliche 
Entstehungszeit wird das 4. Jahrhundert v. Chr. angegeben. 

14 und wir werden noch auf diese Schilderung zuruckkommen: Siehe den sechsten 
Vortrag. 

17 Sokrates, 470-399 v. Chr., wirkte als Weiser in Athen, indem er durch fortgesetztes 
«sokratisches» Fragen die Menschen dazu fuhrte, in sich selbst nach der Wahrheit zu 
suchen. Sein Glaube daran, dafs sich in der denkenden Menschenseele die Vernunft der 
Welt offenbaren konne, war letztendlich der Grund zu seiner Verurteilung, denn 
dieser Glaube widersprach der traditionellen griechischen Staatsauffassung. Mit dem 
«Gesprach iiber die Unsterblichkeit der Seele» ist Platos Dialog «Phaidon» gemeint. 
Von den letzten Tagen des Sokrates handeln ferner auch die Werke Platos « Apologie», 
Verteidigungsrede des Sokrates, und «Kriton». In dem Werk «Die Ratsel der Philoso- 
phic* (GA 18) von Rudolf Steiner wird das Wesen und die Lehre des Sokrates auf den 
Seiten 65-70 dargestellt. 



Plato, 427-347 v. Chr., hat, als Schiiler des Sokrates, seine ganze Philosophic in 
Dialogen dargestellt, in denen meistens Sokrates als Gesprachsfiihrer erscheint. Seine 



Philosophic wird in den Buchern «Die Ratsel der Philosophic* (GA18) und «Das 
Christentum als mystische Tatsache» (GA 8) ausfuhrlich charakterisiert. 

23 «Ich bin in der Erde . ..»: Diese Stelle ist eine freie Umschreibung von Bhagavad Gita, 

10. Gesang, Vers 20-41. 

25 bei der Besprechung des Jobannes-Evangeliums: «Das Johannes-Evangelium», 12 
Vortrage, gehalten in Hamburg 18. bis 31. Mai 1908 (GA 103, vergleiche besonders 
den 4. Vortrag). 

bei der Besprechung des Markus-Evangeliums: «Das Markus-Evangelium», 10 Vor- 
trage, gehalten in Basel 15. bis 24. September 1912 (GA 139, vergleiche besonders den 
2. und den 9. Vortrag). 

in dem Zyklus, den ich einstmals in Kassel gehalten babe: «Das Johannes-Evangelium 
im Verhaltnis zu den drei anderen Evangelien, besonders zu dem Lukas-Evangelium», 
14 Vortrage, 24. Juni bis 7. Juli 1909 (GA 112, vergleiche besonders den 9. Vortrag). 

26 Wir werden . . . noch einmal auf diese Bemerkung zttriickkommen : Siehe den sechsten 
Vortrag, ab Seite 98. 

35 ein grofies Wort eines grofien Aufkldrers : Immanuel Kant in seiner Schrift «Beantwor- 
tung der Frage: Was ist Aufklarung?» Das genaue Zitat lautet: «Habe Mut, dich deines 
eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklarung». 

«Wahrheit und Wissenschaft» (GA 3) 

«Philosophie der Freiheit» (GA 4) 

36 das Weltgeschehen an einem Zipfel: Der Satz, auf den sich Rudolf Steiner hier bezieht, 
findet sich gegen Ende des dritten Kapitels der « Philosophic der Freiheit». Er lautet: «Es 
ist also zweifellos : in dem Denken halten wir das Weltgeschehen an einem Zipfel, wo wir 
dabei sein miissen, wenn etwas zustandekommen soli. Und das ist doch gerade das, 
worauf es ankommt». (GA4, Seite 49) 

38 eine Geheimwissenschaft: «Die Geheimwissenschaft im Umrifi» (GA 13) 

39 Halte dich nicht an die Veden: Vergleiche Bhagavad Gita, 2. Gesang, Vers 42-53. 

45 « Wie erlangt man Erkenntnisse der hbheren Weltenf* : (GA 10) 

52 ein «Faust» -Zitat: Worte des Mephistopheles im zweiten Teil des «Faust», erster Akt 
(Kaiserliche Pfalz): «Zwar ist es leicht, doch ist das Leichte schwer», Zeile 4928. 

61 auf einen griechischen Philosophen : Pythagoras. Vergleiche Diogenes Laertius, «Leben 
und Meinungen beruhmter Philosophen*, Buch VIII, Kapitel I. 

72 «Die geistige FUhrung des Menschen und der Menschheit* (GA 15). 

78 In einer griechischen Pbilosopbengesellschaft: Vergleiche Diogenes Laertius, VI. Buch, 

11. Kapitel uber Diogenes. 

80 H elen Keller, 1880-1968, wurde in ihrem zweiten Lebens j ahre durch eine Krankheit des 
Gesichts- und des Gehorsinns beraubt. Mit sieben Jahren erhielt sie die Erzieherin Anne 
Sullivan, die selbst in ihrer Kindheit blind gewesen war. Diese vermochte es, die 
Denkfahigkeit Helen Kellers zu wecken und sie die Blindenschrift zu lehren. Helen 
Keller entwickelte sich zu einer hochgebildeten Personlichkeit. Sie schrieb mehrere 
Biicher und trat in Verkehr mit vielen bedeutenden Menschen ihrer Zeit. u. a. mit 
Mark Twain und Graham Bell. 



82 Nikolaus Kopernikus, 1473-1543. 

Galileo Galilei, 1564-1642. 

Johannes Kepler, 1571-1630. 

Giordano Bruno, 1548-1600. 
85 «Ein Weg zur Selbsterkenntnis des Menschen» (GA 16). 

87 Woodrow Wilson, 1 856-1 924. Die besprochenen Ausfuhrungen finden sich in dem 1913 
in Leipzig erschienenen Aufsatzband «The new freedom*, im 2. Kapitel mit der Uber- 
schrift «What is progress?* Deutsche Ausgabe Miinchen 1914, Seite 64 f. 

95 ein sehr bedeutender Gelehrter: Richard Garbe (1857-1927) «Die Bhagavad Gita, aus 
dem Sanskrit iibersetzt. Mit einer Einleitung uber ihre ursprungliche Gestalt, ihre 
Lehren und ihr Alter». Leipzig 1905. 

98 Nun lesen wir im neunten Gesange: Vers 4-5. 

102/103 Rudolf Steiner zitiert die Verse 15-25 und 32-34 aus dem 11. Gesang der Bhagavad 
Gita in freier Anlehnung an die Ubersetzung von Leopold von Schroeder. 

117 in meiner Geheimwissenschaft: GA 13. 

119 Kurus und Pandus: Rudolf Steiner bezeichnet mit diesen Namen die Nachkommen 
der indischen epischen Helden Kuru und Pandu. Diese Nachkommen heiften sonst 
«Kaurava» und «Pandava». 

120 in meinem Buche «Die geistige Fuhrung des Menschen und der Menschheit»: GA 15. 

121 «Dieser ist mein vielgeliebter Sohn . . .» : In den iiblichen Bibeliibersetzungen heilk der 
zweite Teil dieses Satzes: «an dem ich Wohlgefallen habe». In der textkritischen 
griechischen Ausgabe des Neuen Testaments (herausgegeben von Eberhard Nestle 1 898) 
wird an der entsprechenden Stelle im Lukas-Evangelium (Kapitel 3, Vers 22) angegeben, 
dafi einige Handschriften die Worte enthalten, welche Rudolf Steiner hier anfuhrt. In 
seinem Zyklus «Das Lukas-Evangelium » (GA114) sagt er dariiber: «<Dies ist mein 
vielgeliebter Sohn, heute habe ich ihn gezeugt>, so hiefi es sonst in den alteren 
Evangelienhandschriften, und so sollte es in Wahrheit in den Evangelien stehen» (S. 147). 

meiner Vortrdge uber das Lukas-Evangelium: «Das Lukas-Evangelium», 10 Vortrage, 
gehalten in Basel 15.-26. September 1909 (GA 114). 

129 Shankaracbarya (gewdhnlich Shankara) 788-820, indischer Weisheitslehrer. Kom- 
mentator wichtiger religioser Schriften, u. a. der Bhagavad Gita, und Begriinder 
des Klassischen Vedantasy stems. 

130 was einmal Schopenhauer geaufiert hat: In dem 1 840 geschriebenen Werk «Preisschrift 
uber die Grundlage der Moral», 7. Band, Kapitel «Metaphysische Grundlage» § 22. Das 
genaue Zitat lautet: «In alien Jahrhunderten hat die arme Wahrheit dariiber erroten 
miissen, daft sie paradox war: und es ist doch nicht ihre Schuld. Sie kann nicht die Gestalt 
des thronenden allgemeinen Irrtums annehmen. Da sieht sie seufzend auf zu ihrem 
Schutzgotte, der Zeit, welcher ihr Sieg und Ruhm zuwinkt, aber dessen Fliigelschlage so 
groft und langsam sind, dafi das Individuum dariiber hinstirbt.» 

138 die Worte des Evangelisten: Evangelium nach Johannes, I, 5. 



138 Ein europaischer Gelehrter: Leopold von Schroeder (1851-1920). Der andere Uber- 
setzer ist Joseph Dahlmann (1861-1930). Die von Rudolf Steiner angefiihrte Ausein- 
andersetzung iiber die Bedeutung des Wortes Sattva ist enthalten in der Anmerkung zu 
Gesang 14, Vers 5, der Ubersetzung von Schroeder. 

144 so will Krishna klar machen: Die folgenden Worte geben in freier Weise Gedanken 
wieder, die am Ende des 14. und am Ende des 1 8. Gesangs der Bhagavad Gita enthalten 
sind. 

152 Eure Augen werden geoffnet werden: 1. Buch Mose, 3. Kapitel, Vers 4 und 5. 
155 «nicht ich, sondern der Christus in mir»: Brief an die Galater, II, 20. 

158 in diesem Sohn . . . wird das Heil: Bezieht sich auf die Propagierung des Inderknaben 
Krishnamurti als wiedergekommener Christus innerhalb der Theosophischen Gesell- 
schaft. Die damit im Zusammenhang stehenden Ereignisse fiihrten zum Ausschlufi der 
deutschen Sektion aus der Theosophischen Gesellschaft und zur Begriindung der 
Anthroposophischen Gesellschaft. Vergleiche dazu das Vorwort von Marie Steiner zu 
dem Zyklus « Die Bhagavad Gita und die Paulusbrief e » (G A 142), abgedruckt als Anhang 
zu diesem Zyklus. 

159 die Prdsidentin: Annie Besant (1847-1933), englische Theosophin, seit 1907 Prasiden- 
tin der Theosophischen Gesellschaft. An den im vorhergehenden Hinweis geschil- 
derten Vorgangen war sie maflgebend beteiligt. 



NAMENREGISTER 



(* = im Text ni 

Besant, Annie 159 :; " 
Bruno, Giordano 82 
Buddha 75 

Darwin, Charles 89,109,110 
David, Konig 72,119,152 
Diogenes 78* 

Fichte, Johann Gottlieb 125, 126, 
128-133, 135, 150 

Galilei, Galileo 82 

Garbe, Richard 95* 

Goethe, Johann Wolfgang von 52 * 

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 

128-135, 150 
Homer 20*, 21 
Humboldt, Alexander von 11 
Humboldt, Wilhelm von 1 1 

Johannes, Evangelist 25, 138 
Johannes der Taufer 121, 154 

Kant, Immanuel 35* 
Kapila 23 
Keller, Helen 80, 81 
Kepler, Johannes 82 
Kopernikus, Nikolaus 82, 83 

Lazarus 25 

Lukas, Evangelist 119, 121, 152-154 

Markus, Evangelist 25 
Matthaus, Evangelist 119 
Mohammed 156 

Nathan 72, 152 
Newton, Isaac 88 

Paulus, Apostel 155 
Plato 17, 19 
Pythagoras 32, 61* 



namentlich genannt) 



Schopenhauer, Arthur 130 
Schroeder, Leopold von 138* 
Shankaracharya 129, 130, 133 
Sokrates 17-20 

Solovieff, Wladimir 128-130, 132, 133, 
135, 150 

Wilson, Woodrow 87-89 

Zarathustra 120, 121 

Steiner, Rudolf 
Schriften: 

Wahrheit und Wissenschaft (GA3) 35 
Die Philosophic der Freiheit (GA 4) 
35, 36 

Wie erlangt man Erkenntnisse der ho- 

heren Welten? (GA10) 45-47, 50, 

55, 56, 85, 132 
Die Geheimwissenschaft im Umrifi 

(GA13) 38,105,117 
Die geistige Fuhrung des Menschen 

und der Menschheit (GA 15) 72, 

120 

Ein Weg zur Selbsterkenntnis des Men- 
schen (G A 16) 85 

Vortrage: 

Das Johannes -Evangelium (GA103) 
25 

Das Johannes-Evangelium im Verhalt- 

nis zu den drei anderen Evangelien 

(GA112) 25 
Das Lukas-Evangelium (GA114) 121 
Die geistigen Wesenheiten in den Him- 

melskorpern und Naturreichen 

(GA136) 9 
Das Markus-Evangelium (GA139) 25 



Robespierre 75 



AUSFUHRLICHE INHALTSANGABEN 



Erster VoRTRAG,Helsingfors,28.Mai 1913 9 

Das Bekanntwerden der Bhagavad Gita und ihrer Bedeutung in der neueren Zeit. 
Eine Aufierung dazu von Wilhelm von Humboldt. Der Ausgangspunkt der 
Bhagavad Gita: ein Bruderkampf. Das Zurikkbeben des Arjuna vor der Verstrik- 
kung in die irdische Welt des Kampfes. Ein Gegenbild: der sterbende Sokrates als 
Verkunder der Unsterblichkeit der Seele. Arjuna als Vertreter der alten Gruppen- 
seelenhaftigkeit und Krishna als Fiihrer zum Erleben des Einzel-Ich. 

Zweiter Vortrag, 29. Mai 1913 25 

Die kunstlerische Komposition aller alten okkulten Urkunden. Seelische Er- 
schutterung als Ausgangspunkt fur okkulte Erlebnisse. Die Erweiterung des 
Interesses, eine Vorbedingung fur geistige Schulung. Arjunas geistige Entwick- 
lung gemalS diesen Voraussetzungen. Das Denken in allgemeinen Begriffen als 
neue Errungenschaft der Bhagavad Gita-Zeit. Ideen und Begriffe als Anfange des 
Hellsehertums. Die Unterweisung des Krishna: Abwendung vom Glauben an das 
Vedawort und Hinwendung zum Beschreiten des Yogaweges. Das Hindurchge- 
hen durch das Gefiihl der Einsamkeit und die ersten Schritte zu ubersinnlicher 
Erkenntnis. 



Dritter Vortrag, 30. Mai 1913 43 

Der Zusammenhang der Traumvorstellungen mit Alltagserlebnissen. Das Herein- 
ragen spiritueller Erfahrungen in die Traumwelt als Folge geisteswissenschaft- 
licher Ubungen. Das Uberwinden der gewohnten Sympathien und Antipathien 
als Voraussetzung fur solche Erfahrungen. Beispiele fur die Schwierigkeit solcher 
Abgewohnung. Das Erringen einer neuen Einstellung zum eigenen Schicksal. Die 
Notwendigkeit einer Erkraftung des Selbstbewulkseins fur den Aufstieg in hohere 
Welten. Die Widerspiegelung solcher Tatsachen in der Begegnung zwischen 
Arjuna und Krishna. 



Vierter Vortrag, 31. Mai 1913 59 

Die letzten Reste hellseherischer Kraft bei den Menschen des Bhagavad Gita- 
Zeitalters. Das Gefiihl von der Sinnlosigkeit des nur physischen Daseins als 
Antrieb zu geistigem Forschen. Das Erringen hoherer Erkenntnisse durch das 
bewufite Eindringen in die sonst im Schlaf erlebte Region der Geisteswelt. Die 
Erkenntnis von der Notwendigkeit des Bosen in der Welt. Die Emporung der 



offentlichen Kritik gegenuber den aus der «Schlaf-Region» herabgeholten Ein- 
sichten. Die Wahrheit von den zwei Jesusknaben als Beispiel. Die Worte des 
Krishna als Offenbarungen aus dieser Geistregion. 

Funfter Vortrag, 1. Juni 1913 78 

Das Mangelhafte aller Definitionen. Charakterisierung des zyklischen Verlaufs 
von Aufbau- und Abbauprozessen im Nervensystem durch den Wechsel von 
Schlafen und Wachen. Helen Keller als Beispiel fur die Widerstandsfahigkeit der 
Vererbungskrafte gegenuber organischen Schadigungen. Das zyklische Lebensge- 
setz im Geschichtsverlauf: Wechsel zwischen Zeiten der Vorbereitung und der 
Erfullung. Die Bildung eines neuen Organs im menschlichen Gehirn zwischen 
dem 14. und dem 19. Jahrhundert und der Beginn des spiritualistischen Denkens 
in der Gegenwart. Beispiele fur das Nachwirken einer materialistisch oberflachli- 
chen Denkweise. Woodrow Wilsons Anschauungen vom Staatsleben. Die Vorbe- 
reitung des Selbstbewufitseins durch Krishna wahrend der Zeit der Kasteneintei- 
lung und der Ahnenverehrung. Das Bewulkwerden dieses Vorgangs bei Arjuna. 

Sechster Vortrag, 2. Juni 1913 93 

Ein Irrtum heutiger abstrakter Wissenschaftlichkeit: Die Interpretierung alter 
religioser Urkunden als philosophische Systeme. Die Begegnung des Arjuna mit 
Krishna als dem Bringer des Selbstbewulkseins. Die kiinstlerische Steigerung von 
den ersten Gesangen der Bhagavad Gita bis zum neunten: Vom Verstehen des 
Ewigen in den Erscheinungen uber das Vertiefen in Yoga zum Erleben des 
Krishna-Geistes in imaginativen Bildern. Die Bedeutung des Krishna-Impulses 
fur die einzelne Menschenseele, des Christus-Impulses fur die ganze Menschheit. 



Siebenter Vortrag, 3. Juni 1913 108 

Die Unfahigkeit des Menschen, die eigenen Erkenntniskrafte zu erkennen. Das 
Wirken der Zerstorungskrafte im wachen Denkleben und der schopferischen, 
aufbauenden Krafte wahrend des Schlafes. Das Besondere dieser schopferischen 
Krafte im Menschen: ihre Verwandtschaft mit dem «Weniger-als-Nichts». Das 
Schlafen der Generationskrafte im unschuldigen Kindesalter und ihre zur Tierheit 
herabdriickende Wirkung bei ihrem Erwachen wahrend der Geschlechtsreife. Die 
Bewahrung dieser menschenschopferischen Krafte vor dem luziferischen Einflufi 
in der Schwesterseele des Adam. Die Menschwerdung dieser Seele in dem Jesus- 
knaben des Lukas-Evangeliums. Ihre Durchdringung mit der Zarathustraseele des 
anderen Jesusknaben im Alter der Geschlechtsreife. Das Wirken der Seele Adams 
in dem Impuls des Krishna. Das Auffinden dieser Tatsachen durch okkulte 
Beobachtung und nicht durch verstandesmaftiges Konstruieren. 



Achter Vortrag,4. Juni 1913 124 

Das Herauswachsen der Bhagavad Gita aus der Empfindungshaltung des alten 
Indien. Das Nicht-Verstehen ihres tieferen Gehalts. Die Bestrebungen zur 
Erneuerung der altindischen Weisheit durch die Sankhyaphilosophie und die 
Vedantaphilosophie des Shankaracharya. Die inhaltliche Verwandtschaft dieser 
Geistesstromung mit der Philosophic von Solovieff, Fichte und Hegel. Das 
Empfinden der Bhagavad Gita ausgedruckt in den Begriffen Sattva, Rajas und 
Tamas. Die Lebendigkeit dieser Begriffe und ihre Anwendung auf verschiedenen 
Lebensgebieten, 



Neunter VoRTRAG,5.Juni 1913 141 

Die unterschiedliche Anwendung der Begriffe Sattva, Rajas und Tamas fur die 
Bhagavad Gita-Zeit und fur die Gegenwart. Das Herauswachsen aus den drei 
Seelenzustanden als Aufgabe des Arjuna. Der Impuls des Krishna zur Verselb- 
standigung und Vervollkommnung der Menschenseele. Die Synthese des Luzifer- 
Impulses und des Krishna-Jesus-Impulses durch den Christus-Impuls. Der in 
der Theosophischen Gesellschaft verbreitete Irrtum von der leiblichen Wiederver- 
korperung des Christus und das Streben nach Wahrhaftigkeit als Aufgabe der 
Anthroposophie. 



UBER DIE VORTRAGSNACHSCHRIFTEN 



Aus Rudolf Steiners Autobiographie 
«Mein Lebensgang» (35. Kap., 1925) 

Es liegen nun aus meinem anthroposophischen Wirken zwei Ergeb- 
nisse vor; erstens meine vor aller Welt veroffentlichten Biicher, zwei- 
tens eine grofie Reihe von Kursen, die zunachst als Privatdruck 
gedacht und verkauflich nur an Mitglieder der Theosophischen (spa- 
ter Anthroposophischen) Gesellschaft sein sollten. Es waren dies 
Nachschriften, die bei den Vortragen mehr oder weniger gut gemacht 
worden sind und die - wegen mangelnder Zeit - nicht von mir 
korrigiert werden konnten. Mir ware es am liebsten gewesen, wenn 
miindlich gesprochenes Wort miindlich gesprochenes Wort geblieben 
ware. Aber die Mitglieder wollten den Privatdruck der Kurse. Und so 
kam er zustande. Hatte ich Zeit gehabt, die Dinge zu korrigieren, so 
hatte vom Anfange an die Einschrankung «Nur fur Mitglieder» nicht 
zu bestehen gebraucht. Jetzt ist sie sek mehr als einem Jahre ja fallen 
gelassen. 

Hier in meinem «Lebensgang» ist notwendig, vor allem zu sagen, 
wie sich die beiden: meine veroffentlichten Biicher und diese Privat- 
drucke in das einfiigen, was ich als Anthroposophie ausarbeitete. 

Wer mein eigenes inneres Ringen und Arbeiten fiir das Hinstellen 
der Anthroposophie vor das Bewufksein der gegenwartigen Zeit 
verfolgen will, der mul? das an Hand der allgemein veroffentlichten 
Schriften tun. In ihnen setzte ich mich auch mit alle dem auseinander, 
was an Erkenntnisstreben in der Zeit vorhanden ist. Da ist gegeben, 
was sich mir in «geistigem Schauen» immer mehr gestaltete, was zum 
Gebaude der Anthroposophie - allerdings in vieler Hinsicht in un- 
vollkommener Art - wurde. 

Neben diese Forderung, die «Anthroposophie» aufzubauen und 
dabei nur dem zu dienen, was sich ergab, wenn man Mitteilungen aus 
der Geist-Welt der allgemeinen Bildungswelt von heute zu iibergeben 
hat, trat nun aber die andere, auch dem voll entgegenzukommen, was 
aus der Mitgliedschaft heraus als Seelenbedurfnis, als Geistessehn- 
sucht sich offenbarte. 

Da war vor allem eine starke Neigung vorhanden, die Evangelien 
und den Schrift-Inhalt der Bibel iiberhaupt in dem Lichte dargestellt 
zu horen, das sich als das anthroposophische ergeben hatte. Man 
wollte in Kursen iiber diese der Menschheit gegebenen Offenbarun- 
gen horen. 



Indem interne Vortragskurse im Sinne dieser Forderung gehalten 
wurden, kam dazu noch ein anderes. Bei diesen Vortragen waren nur 
Mitglieder. Sie waren mit den Anfangs-Mitteilungen aus Anthroposo- 
phie bekannt. Man konnte zu ihnen eben so sprechen, wie zu Vorge- 
schrittenen auf dem Gebiete der Anthroposophie. Die Haltung dieser 
internen Vortrage war eine solche, wie sie eben in Schriften nicht sein 
konnte, die ganz fur die Offentlichkeit bestimmt waren. 

Ich durfte in internen Kreisen in einer Art iiber Dinge sprechen, 
die ich fiir die offentliche Darstellung, wenn sie fur sie von Anfang an 
bestimmt gewesen waren, hatte anders gestalten miissen. 

So liegt in der Zweiheit, den offentlichen und den privaten Schrif- 
ten, in der Tat etwas vor, das aus zwei verschiedenen Untergriinden 
stammt. Die ganz offentlichen Schriften sind das Ergebnis dessen, was 
in mir rang und arbeitete; in den Privatdrucken ringt und arbeitet die 
Gesellschaft mit. Ich hore auf die Schwingungen im Seelenleben der 
Mitgliedschaft, und in meinem lebendigen Drinnenleben in dem, was 
ich da hore, entsteht die Haltung der Vortrage. 

Es ist nirgends auch nur in geringstem Mafie etwas gesagt, was 
nicht reinstes Ergebnis der sich aufbauenden Anthroposophie ware. 
Von irgend einer Konzession an Vorurteile oder Vorempfindungen 
der Mitgliedschaft kann nicht die Rede sein. Wer diese Privatdrucke 
liest, kann sie im vollsten Sinne eben als das nehmen, was Anthropo- 
sophie zu sagen hat. Deshalb konnte ja auch ohne Bedenken, als die 
Anklagen nach dieser Richtung zu drangend wurden, von der Ein- 
richtung abgegangen werden, diese Drucke nur im Kreise der Mit- 
gliedschaft zu verbreiten. Es wird eben nur hingenommen werden 
miissen, dafi in den von mir nicht nachgesehenen Vorlagen sich 
Fehlerhaftes findet. 

Ein Urteil uber den Inhalt eines solcben Privatdruckes wird ja 
allerdings nur demjenigen zugestanden werden konnen, der kennt, 
was als Urteils-Voraussetzung angenommen wird. Und das ist fiir die 
allermeisten dieser Drucke mindestens die anthroposophische Er- 
kenntnis des Menschen, des Kosmos, insofern sein Wesen in der 
Anthroposophie dargestellt wird, und dessen, was als «anthroposo- 
phische Geschichte» in den Mitteilungen aus der Geist-Welt sich 
findet.